Leben und Kampf von Andrea Wolf
Seiten 16-20
ANDREA, MEINE TOCHTER IST TOT!

Zwillinge sind es in meinem Bauch. Wie sollen sie heißen. Andrea und Tom, Ina und Jan? Das Los entscheidet für Andrea und Tom.
Andrea kommt als erste auf die Welt, bahnt den Weg für ihren Bruder. Ihr Bruder kleiner als sie. Oft krank, sensibel.
Kindergarten, die ersten Schuljahre. Tom ist oft wütend auf seine Schwester. Sie ist schon einen Kopf größer als er, hat nie Probleme in der Schule. Er- nachgewiesen hoher IQ, aber keinen Bock auf Schule. Viele schöne doppelte Geburtstagsfeste. Die Wolfzwillinge feiern, da geht man gerne hin.
Sie sind 11 geworden. Der erste tiefe Riß in ihrem Leben. Der Vater stirbt auf dramatische Weise. Er war in Afrika, sollte ein soziales Projekt entwickeln. Er wurde krank, ungeklärt was passierte. Verlor zeitweise das Gedächtnis und wurde von der Botschaft nach Hause und in ein Krankenhaus gebracht. Nach der Entlassung, ist er immer noch verwirrt. Er kommt mit dem Leben nicht mehr zurecht und bringt sich um. Andrea fragt mich ein paar Jahre später öfters; was hätte mein Vater zu diesem oder jenem gesagt, was ich mache, denke und will.

12 Jahre, Andrea neugierig auf alles. Wir reden viel zusammen; soziale Probleme, Konsumterror, Militärzwang. Sie geht auf ein katholisches Gymnasium, wird dort Schulsprecherin, macht sich aber gleichzeitig unbeliebt bei den Nonnen. Ihre Offenheit nennen sie unangepaßt. Diese Zeit nenne ich die Teezeit. Immer sind viele Freundinnen bei Andrea. Sie trinken Tee aus winzigen Schälchen, die ich dafür gemacht habe. Da darf Tom auch schon mal dabei sein. Bald darauf kommt der erste Schritt ins Öffentliche; Andrea und Tom gehen zur Jugendrotkreuzgruppe. Dort begleiten sie z.B. Leute im Rollstuhl zu Veranstaltungen.

Der nächste Schritt zur SPD- Jugendgruppe. Die Falken, wir die aufgeschlossenen Mütter treffen uns, diskutieren, wie schützen wir unsere Kinder? Sie wollten auch zusammen eine Reise nach Spanien machen. Ab dem Zeitpunkt sind Andrea und Tom sich immer sehr nah. Vergessen Streitereien und Eifersucht aus den Kinderjahren. Das ist auch die Zeit des, sich zum ersten Mal Verliebens, heftig, schön, auch manchmal weniger schön. Erste sexuelle Kontakte. Ich gehe mit Andrea zu einer Frauenärztin. Die Pille für junge Mädchen? Andrea will nicht schon ab 15 Jahre die Pille nehmen. Andrea verändert sich. Die Teezeit ist vorbei. Das Zimmer wird ausgeräumt, alles Unnötige verschwindet. Politisches Bewußtsein entwickelt sich weiter.
Erste Hausbesetzung in München. Andrea ist dabei, wird verhaftet. Ihre erste Nacht im Gefängnis. Ich werde sofort informiert. Meine Tochter im Gefängnis! Meine Gefühle: Angst um Andrea, aber auch: Sie hat recht. Häuser sollten nicht leer stehen. Am anderen Morgen kommt sie. “War nicht so schlimm. Eine interessante Erfahrung.”
Andrea will ausziehen, in eine Wohnung zusammen mit zwei Freundinnen. Ich bin einverstanden, aber sei vorsichtig, du bist minderjährig, ich alleinerziehend. Das könnte ein Grund sein dich in irgendeine Pseudo- Erziehungsinstitution zu stecken.
Andrea ruft mich oft an und ich besuche sie in der Wohnung. Alles läuft gut. Tom hat eine Lehre als Fotograf. Ist viel in einem Jugendtreff, Teestube an der Isar. Auch ich bin öfters dort zu Diskussionen mit Eltern und Betreuern. Andrea`s Spektrum wird breiter. Sie ist sehr bewußt, klar. Sie verachtet Alkohol. Dann findet die Demo gegen Wohnungsnot statt. Andrea und Tom sind inzwischen 16 Jahre alt. Bei der Demo werden beide, gemeinsam mit vielen anderen verhaftet und verbringen vier Tage in Untersuchungshaft.

Jahre des Aufruhrs. Wir sind auf Demos in Wackersdorf, in Mutlangen, in Nesselwang und Passau bei Nazitreffen. Andrea mit ihrer Gruppe, ich mit meiner. Aus all dem und Andreas neuen Kontakten entstand "Freizeit 81". Und dann: Schlagzeilen, 70 Polizisten durchsuchen 17 Wohnungen. Darunter war auch meine. Sie veranstalten ein Chaos, riechen an Wein-, und Colaflaschen, “Was sucht ihr eigentlich?” Keine Antwort. Andrea und Tom verhaftet. Nun beginnt eine harte Zeit für mich. Ich bewege mich nur noch zwischen Jugendrichter, Gefängnis und Gericht. Ich streite mit Richtern um Besuchserlaubnis, Büchergenehmigung. Mit Aufpassern im Knast: “Warum ist der Tisch so groß? Ich kann meine Tochter nicht umarmen." "Eben darum, großer Tisch, mehr Distanz bei den Besuchen.” Bei allen Prozessen bin ich dabei. Da war nun Andrea`s erster Verräter, Knallhart, der 16-jährige Spitzel, der bei seinen Aussagen von drei Leibwächtern begleitet wird. Ab und zu werde ich vom Staatsanwalt angesprochen, z.B.“Ich würde Ihnen raten, mehr auf Distanz zu gehen, sie sollten sich nicht so sehr mit ihren Kindern identifizieren.“ Es sind aber meine Kinder!

Nach den Prozessen und Verurteilungen kommen Andrea und Tom in zwei weit voneinander entfernte Knäste. Ich bekomme eine Stunde Besuchserlaubnis alle zwei Wochen. Also jede Woche Knastbesuch. Einmal Andrea, einmal Tom. Zu Andrea kann ich mit dem Zug, zu Tom muß ich Freunde mit Auto organisieren. Alpträume, Ängste. Aber ich erfahre aber auch viel Solidarität in dieser Zeit. Danach wohnen sie wieder eine Zeit zu Hause.

15. Januar 83, wir feiern den 18. Geburtstag. Einfach offene Tür, Leute kommen und gehen. Ich bin glücklich. Alles ist gut. Meine Kinder sind jetzt erwachsen. Andrea zieht dann in eine WG. Tom ist noch zu Hause. Irgendwann zieht auch er aus, er meint, er sei ja jetzt erwachsen und sollte wohl nicht länger bei mir rumhängen. Er kommt oft am Abend und kocht für uns beide. Tom hat eine Freundin. Ich kenne sie, sie wird schon lieb mit meinem Sohn umgehen.

4. November 1984, früh um 4 Uhr ein Anruf. Tom ist tot, nach einem Sturz aus dem Fenster. Der Schock macht mich steif, ich kann mich nicht mehr bewegen, nicht laufen, nicht hingehen. Irgendwann kommt Andrea.
Bis zur Beerdigung habe ich nur noch nebelhafte Erinnerungen, ich war bei einem Freund der ein Blumengeschäft hatte und band mit ihm Kränze für das Grab.
Irgendwann schaffe ich es in das normale Leben und zu meiner Keramik zurückzugehen. Ich hatte auch ein paar Therapiestunden bei einer Psychologin.“ Nein, du bist nicht krank, der Zustand und Schmerz ist normal bei dem Verlust eines Kindes.“ Andrea und ich begegnen uns seit Toms Tod etwas distanzierter. Jede versucht mit dem Schmerz fertig zu werden. Wir können uns nicht gegenseitig trösten. Vielleicht können, oder wollen wir es uns nicht zeigen wie sehr wir unter Toms Tod leiden. Mein einziger Sohn, ihr einziger Bruder. Warum bloß kann man solche Tode nicht verhindern?

Andrea geht nach Frankfurt, zieht durch verschiedene WG´s, Gruppen. Freundinnen und Freunde. Macht das Abitur. Ich besuche sie. Begeistert bin ich, wie die jungen Leute mit dem Leben, den Dingen und dem Konsum umgehen. Alle legen ihre Klamotten in ein Regal, jeder nimmt sich was er braucht. Andrea kommt zwischendurch nach München. Wir reden, gehen spazieren, einen Tag und sie geht wieder. Freundinnen fragen mich, wie kannst du es aushalten, deine Tochter weit weg von dir? Ich kann es gut aushalten, jemand lieben, heißt nicht, daß man in der gleichen Wohnung sein muß.

1986, meine erste Reise nach Guatemala. Dort beschließe ich, für immer in Guatemala zu leben, etwas mit Frauen zu machen. Auf dieser Reise sehe ich Andrea auf der Straße liegen und ein Auto. Unruhe treibt mich, was ist los? Es gibt keine Telefone hier. Rückflug, als ich in München ankomme frage ich eine Freundin, die mich abholt: "Was ist mit Andrea?" “Sie liegt im Krankenhaus.“ Ich besuche sie täglich, sie wurde bei dem Unfall schwer verletzt, aber sie lebt. Ich erzähle ihr von meiner Idee nach Guatemala zu gehen, von den Frauen die offen sind, auf dich zugehen, dich anfassen. Sie findet die Idee schön.

1987, ich löse alles in München auf, und plane die Reise nach Guatemala im September. Mit Andrea vereinbaren wir, daß ich von Frankfurt aus fliege und wir vorher noch zwei Tage zusammen verbringen. Abschied nehmen. Ich komme in Frankfurt an, warte auf Andrea, da kommt ein Freund von ihr. “Wo ist Andrea?““Lilo, sie wurde heute nacht verhaftet.“ Das war das Werk des zweiten Verräters in Andrea´s Leben. Wir fahren zu ihrer Wohnung und treffen nur das schon bekannte Chaos nach Hausdurchsuchungen an. Wir versuchen nun eine Besuchserlaubnis für mich zu bekommen. “Ich muß meine Tochter sehen, morgen fliege ich nach Guatemala.“ Nichts geht. Abends bin ich noch mit vielen Leuten zusammen. Diskussionen, sie erzählen mir wie es zu der Verhaftung kam. Am nächsten Tag fliege ich. Ich fühle mich aufgefüllt mit Steinen, so schwer. Ich verlasse Deutschland. Mein Sohn und mein Mann auf dem Friedhof, meine Tochter im Knast. Was ist das für ein Land, wo solche Situationen produziert werden? Aus meinem Kalender von damals: Das böse Erwachen in Frankfurt, könnte ich mit Mutterliebe Mauern einreißen.....
Viele Tränen im Flugzeug. Adiós hija !
Diese Reise, was war das alles! Schöne Abschiede in München, und dann? Habe ich gedacht in Frankfurt wäre es lockerer als in München und sie würden sie in Ruhe lassen??
Ich komme an in Guatemala, da ist niemand mit dem ich über die Situation reden kann.
16. November 1987 ein Boot kommt über den Fluß. Es ist der Junge von der Post. “Ich habe ein Telegramm für dich, aus Europa, muß wohl wichtig sein.“ Drei Worte: Ich bin frei! Ich fange an zu schreien und zu tanzen. Der Junge meint: die Gringos sind komisch, was ihnen so ein kleines Papier bedeutet. Nun kann ich mich entspannen, und auf mein neues Leben konzentrieren.

1989, meine erste Reise von Guatemala nach Deutschland. Am 15. Januar komme ich in München an. Andreas Geburtstag. Sie kommt am nächsten Tag aus Frankfurt. Ich hole sie am Bahnhof ab. Große Freude, wie immer empfinde ich unser Zusammensein sehr intensiv. Sie bleibt zwei Tage. Am 27.1. fahre ich nach Frankfurt, wohne bei Andrea und lerne neue Freundinnen und Freunde kennen. Immer gibt es Probleme, Diskussionen, Demos. Warum heißt es immer, Deutschlands Jugend sei nur noch egoistisch und auf Konsum orientiert? In Andreas Umfeld treffe ich immer politisch bewußte junge Leute. Auf meinem Rückflug nach Guatemala, Zwischenlandung in Frankfurt, wir treffen uns nochmal. Dieses Mal fliege ich ohne Tränen nach Guatemala. Wir bleiben immer in Kontakt, Briefe, Fotos gehen hin und her.

Das nächste Mal komme ich im Juli 92, dieses Mal ist Andrea am Flughafen. Am 1. August besuche ich sie in Frankfurt. Andrea wartet am Zug, wie schön das ist. Sie wohnt jetzt in der Fritzlarer. Ich fühle mich sehr wohl dort. Andrea`s Zimmer gefällt mir, es hat System. Ein Foto von Tom. Immer noch reden wir nicht viel über ihn. Andrea zeigt mir ihr Umfeld. Ich begleite sie zum Taek-won-do, das kleine Eiscafé. Heute abend gehen wir griechisch essen mit einem Freund, sagt Andrea. Er heißt Klaus, ist eher ruhig, sagt vor kurzem sei sein Vater gestorben. Ich habe weder einen angenehmen noch einen unangenehmen Eindruck von ihm. Andrea`s dritter und letzter Verräter. Das sind die letzten Tage, die ich mit Andrea in Frankfurt verbringe.

1993, Andrea besucht mich in Guatemala. Ich freue mich und mit mir das Dorf. Lilos Tochter kommt. Sie kommt im Januar mit einer Freundin. Ich spüre eine Veränderung an ihr, sie ist so ernst, unruhig. Schreibt viel Tagebuch und an ihren Freund, der im Knast ist. Wir lachen nicht so oft wie früher. Es gefällt ihr auch nicht, daß ich sie überall mitnehmen will. Sie will nicht herumgezeigt werden. Das gibt sich und wir verbringen schöne Momente und Stunden mit Frauen aus dem Dorf.
Zwei Mädchen gibt es hier, die nach ihr Andrea getauft wurden. (Damit du auch hier eine Andrea Tochter hast.) Bei diesem Besuch setzt sie sich viel mit ihrer Kindheit, Jugend, politischer Arbeit auseinander. Auch ich, die Mutter wird miteinbezogen. Vieles wird hinterfragt. Wir sitzen am Meer und reden,“ Andrea weißt du daß die Maya-Frauen eine Demo machen? Sie wollen, wenn sie schon einen Sohn verloren haben, daß ihre anderen Söhne nicht zum Militär müssen. Andrea paß auf dich auf, du meine einzige Tochter!“ (Weiß ich etwas?)
Wir fahren in die Berge, hoch oben ins Quiché. Wir sind in dem Dreieck wo es immer viele Konflikte gibt. Wir wollen das Camp aufsuchen, wo Familien, die aus den versteckten Dörfern zurückkommen, aufgenommen werden. Das Camp ist inzwischen aufgelöst. Auf einem Cola-Laster fahren wir weiter in einen kleinen Ort, der noch höher liegt. Nebel und Wolkenfetzen um uns herum. Hart sind die Colakisten.
Zwischenhalt in Sololá. Andrea und ihre Freundin überreichen mir in der Früh ein Geschenk, es ist mein Geburtstag.
Die beiden fahren anschließend nach El Salvador. Wir treffen uns wieder in Iztapa. Sie fliegen am 5. April zurück.

Andrea kommt im Januar 95 wieder nach Guatemala, mit ihrem Freund. So lerne ich ihn auch kennen. Sympathisch auf den ersten Blick. Ich bin glücklich meine Tochter wieder hier zu haben. Dazu noch einen Schwiegersohn. Dieser Besuch ist jedoch überschattet von den Ereignissen in Deutschland. Steinmetz, Bad Kleinen, und vieles mehr. Dieser letzte Verrat hat Andrea zutiefst getroffen. Auch ich bin entsetzt. Dieses Schwein, und mit ihm bin ich an einem Tisch gesessen. Wir fahren nach El Salvador, besuchen das Projekt, wo Andrea zwei Jahre zuvor gearbeitet hat, und besuchen Freunde.
Wieder in Iztapa gibt es neue Auseinandersetzungen, mit vielem und mit mir. Ich liebe meine Tochter und es schmerzt, daß sie auch unsere Beziehung durchleuchtet. Später schreibt sie mir einen Brief dazu, da kann ich besser mit umgehen. Die Zeit vergeht wie immer, sie müssen zurück. Am letzten Tag fahren wir im Boot zur Flußmündung. Warum muß ich Andrea immer anschauen? Meine schöne, große Tochter. (Weiß ich, daß ich sie bald nicht mehr sehen werde?)

Ein letztes Abendessen. Ich komme nicht mit zum Flughafen, dort sind die Abschiede noch trauriger. Wir verabschieden, umarmen uns auf der Straße, als der Bus kommt. “Adiós Tochter, paß auf dich auf!“ Andrea: “ Ich schreibe dir.“ Das war das letzte Mal, daß ich sie sah und umarmte.


Die Situation in Deutschland spitzt sich zu. Ich erfahre von einem Haftbefehl. Für mich absurd das Ganze. Zum Zeitpunkt der Anschuldigung war Andrea hier in Guatemala. Ich bekomme einen Brief von ihr: ,Ich werde erstmal von Deutschland weggehen und wir werden uns eine Zeitlang nicht sehen`. Wohin geht sie, wie wird es ihr ergehen?? Ich hasse diesen Spitzel, der dies alles mit verursacht hat!

1997, meine letzte Reise nach Deutschland. Erst Diskussionen in München mit Freunden von Andrea, bezüglich ihrer Lage, dann fahre ich sofort nach Frankfurt um mehr über Andrea zu erfahren. Ich treffe mich mit Freunden und Freundinnen von ihr. Ich rede auch mit der Anwältin. Sie kann nichts gegen den Haftbefehl unternehmen, solange Andrea nicht da ist. Ich finde alles unendlich traurig, und niemand weiß genau wie es ihr geht. Ich halte es nicht lange in Frankfurt aus, all die Plätze ohne Andrea. Nach zwei Tagen fahre ich nach München zurück. Später bekomme ich einen Brief von ihr: “Ich bin bei den kurdischen Frauen in den Bergen, das Leben ist hart, aber intensiv. Im Moment könnte ich mir nicht vorstellen in einer Stadt zu leben.“ Jetzt weiß ich endlich wo sie ist. Ihre Erfahrungen dort sind meinen ähnlich. Die ersten Jahre in Guatemala lebte ich in einer Hütte, ohne Strom, weit weg von der Zivilisation. Nur der Krieg spielte sich in einem anderen Teil des Landes ab.
Ich kann ihr schreiben. “Andrea, ich möchte dich besuchen.“ Sie läßt mich wissen, daß sie versuchen wird meinen Besuch zu organisieren. Längere Zeit höre ich nichts mehr von ihr. Ich lese ein Buch über Kurdistan. Da steht, daß Internationalistinnen nicht an die Front kommen. Immerhin etwas zur Beruhigung.

September 1998 kommt eine Freundin von Andrea aus Frankfurt. Wir kennen uns von meinen Besuchen dort. Sie wollte auch mal Abstand zu Deutschland haben. Wir reden immer wieder über Andrea. Sie bringt mir einen Brief von ihr (der Letzte!). Ich bewahre ihn, und lese ihn erst in der Nacht. Immer wieder. Da steht:“ Mach dir keine Sorgen, die Freundinnen passen auf mich auf. Obwohl schon mal was passieren könnte. Ich werde nächstes Jahr zurückkommen.“ Ich freue mich sehr über ihren Brief, trotzdem ist da etwas nicht greifbares.
Nach der großen Mitch- Überschwemmung, als es wieder Transporte gibt, fährt die Freundin wieder weg aus Iztapa.

Zwei Tage später ist sie wieder da, mit S. der aus Deutschland kam. Ich sehe ihre Gesichter, und rede und rede, damit sie nichts sagen können. Ich weiß es. Irgendwann muß ich aufhören, und letztlich stehen die Worte im Raum.

Andrea ist tot.

Andrea meine Tochter ist tot.
Die Schmerzen sind schlimmer als bei der Geburt.

Wir verabschieden sie tagelang mit Kerzen, Blumen, Musik, Meditation.
Unendlich schwer fällt mir dieser Prozeß des sich damit Abfindens. Jetzt habe ich meine ganze Familie verloren.
Ein buddhistisches Gedicht. Es soll mir helfen.

Immer wieder steigst du hernieder,
in der Erde wechselnden Schoß
bis du gelernt hast, im Licht zu leben
daß Leben und Sterben eins gewesen
und alle Zeiten zeitenlos.

Bis sich die mühsame Kette der Dinge
zum immer ruhenden Ringe in dir sich reiht
In deinem Willen ist Weltenwille.

August 1999,
Auf den Spuren unserer letzten gemeinsamen Reise. Ich fahre nach Cobán, suche das Hotel, gehe in das Zimmer wo wir übernachteten. Dann in die Regenwälder. Unterhalb am Hang ist das kleine Haus, wo wir ein Zimmer hatten. Ich steh davor, und erinnere mich an alles. Wir saßen zusammen in einem Bett, hielten uns an der Hand und redeten. Liebe strömte zwischen uns, und von mir immer wieder diese Angst um sie. “Andrea ich möchte nur, daß es dir gut geht.“ “Ja, aber du kannst nicht nachvollziehen durch was es mir gut geht.“ Dieses Argument konnte ich nicht widerlegen und akzeptierte es.
Am nächsten Tag fuhren wir auf einem alten Laster in die Stadt zurück, hüllten uns in unsere Regenjacken und jede hing ihren Gedanken nach.

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