Leben und Kampf von Andrea Wolf
Seiten 97-100
Andrea an die kurdische Bewegung, September 1995


Ich bin im Süden von Deutschland geboren und aufgewachsen, in der bewegten Zeit der 68er Revolte. Eine meiner ersten Kindheitserinnerungen ist eine Ho-Chi-Minh-Demo, bei uns zu Hause waren immer viele Menschen und ständig wurde diskutiert.

Das Rollenverhalten zwischen Mann/Frau blieb allerdings unberührt: Mein Vater war permanent auf Achse, während meine Mutter zu Hause bei den Kindern bleiben mußte. So wuchs ich quasi vaterlos auf. (…) Die Umbruchphase endete damit, daß der Aufbruch der Studen-tInnenbewegung mitsamt ihren Inhalten nicht mehr präsent war. Die RAF, die daraus hervorgegangen war, erlitt mit der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Schleyer eine große Niederlage, der Staat reagierte mit militärischer Aufrüstung und brachte politische Gefangene um.

Das war der Beginn meiner eigenen Politisierung. Meiner Erinnerung nach schlossen mein Bruder und ich uns mit 15 der neuen Jugendbewegung an, die eine große Anziehungskraft und Sprengkraft hatte. Mit ihrer eigenen Kultur und Musik rebellierte sie gegen alles, auch gegen die in Hoffnungslosigkeit eingeknickten Eltern. Wir organisierten Konzerte, brachten selbstgemachte Zeitungen heraus, sprühten Parolen, besetzten Häuser, und griffen die Sicherheitskräfte und das ganze dahinter stehende System militant an.

Durch Verrat wurden wir, zusammen mit fünf weiteren FreundInnen, verhaftet. Wir waren über sieben verschiedene Knäste verteilt und hatten keine Möglichkeit zur freien Kommunikation. Die Urteile beliefen sich dann auf zwei bis drei Jahre, die aber, abhängig vom Alter, zur Bewährung ausgesetzt wurden.
So waren also mein Bruder und ich mit 16 Jahren das erste Mal länger im Gefängnis gewesen. Im Frauenknast hatte ich zusammen mit meinen Mitgefangenen eine Revolte und einen Hungerstreik initiiert, gegen die Haftbedingungen, was beides niedergeschlagen wurde, bzw. abbröckelte.
Nach unserer Freilassung blieb uns in dem Sinne kaum Zeit zum aufarbeiten. Die Ereignisse überschlugen sich. Die Fragen nach der eigenen Perspektive waren vermischt mit den Auseinandersetzungen in der Gesellschaft, bzw. mit/gegen den Staat. So z.B. die Anti-NATO-Kämpfe, die Mobilisierung gegen die Mittel-streckenraketenstationierung, die Spaltung der Häuserbewegung in Verhandlungsbereite und “Hardliner”, die Vermarktung unserer Wider-standskultur. Meine Schulausbildung hatte ich im Sommer 1981 abgebrochen und wurschtelte mich mit Jobs durchs Leben.

(…) Im November 1984 beging mein Bruder Selbstmord. Wir waren gerade 20 Jahre alt. Es trieb mich in eine tiefe Verzweiflung, und die große Wunde, der unermeßliche Schmerz über seinen unersetzlichen Verlust halten bis heute an.
Trotzdem wollte ich nicht resignieren und auch für ihn weiterkämpfen. Ich beteiligte mich am revolutionären Flügel der Anti-WAA-Bewegung, aus der schließlich eine neue, autonome Frauenorganisierung hervorging.

Wir waren 1987/88, als autonome und antiimperialistische Bewegung bereits in einer Krise steckten, den staatlichen Angriffen ausgesetzt. Kein Wunder, waren wir doch die einzige Kraft, die potentiell eine revolutionäre und antipatriarchale Einheit hätte schaffen können, und somit eine ganz andere Stärke für die Zukunft.

Ich wurde im September 1987 durch eine Inszenierung eines Verfassungsschutzagenten verhaftet und war drei Monate in Isolationshaft.

(…) Trotz meiner Haftbedingungen war es möglich, mit den anderen, politischen gefangenen Frauen aus der RAF Kontakt aufzunehmen. Das veränderte meinen Blick auf mich selbst, die Gesellschaft, vor allem aber auf den Kampf und unsere Möglichkeiten zur Veränderung ganz entscheidend.

Nach meiner Entlassung, als die Lügen des Staatsschutzes nicht mehr haltbar waren, baute ich mit GenossInnen, die aus verschiedenen politischen Erfahrungen kamen, zusammen eine Gruppe auf. Wir hatten uns zum Ziel gesetzt, eine Befreiungsbewegung in der Metropole wieder aufzubauen, trotz und angesichts des bereits spürbaren Niedergangs der revolutionären Front (aus RAF, kämpfenden Einheiten und politischen Gruppen - ein Konzept, das die RAF als Konsequenz aus '77 entwickelt hatte, und das sich Mitte der 80er Jahre verwirklichte).

Vor diesem Hintergrund hatte ich Kontakt mit Steinmetz, der sich später als Verfas-sungsschutzagent entpuppte. Es ging dabei um die Diskussion mit der RAF, um eine weitere Perspektive zu erarbeiten. Dieser Prozeß wurde durch die Ereignisse in Bad Kleinen im Juni '93 endgültig zum Erliegen gebracht. Steinmetz lieferte an BKA und GSG 9 den Genossen Wolfgang Grams, der vor Ort hingerichtet wurde, und die Genossin Birgit Hogefeld, die verhaftet wurde, aus.

Die Enttarnung von Steinmetz löste nicht nur allgemein große Unsicherheit und Zweifel aus. Auch bei mir selbst hatte sie eine der schwersten Phasen meines Lebens eingeleitet. Plötzlich war alles Vertrauen in die eigene Kraft als kämpfende Menschen wie ausgelöscht. Bestätigt wurde das durch die Unfähigkeit der Gruppe, die Situation zu bewältigen. Statt dessen traten reaktionäre Mechanismen von Schuldsuche auf den Plan, die die Einzelnen noch mehr in die Isolation trieben. Ohne daß es bis heute eine gemeinsame Aufarbeitung gegeben hätte - was mir sehr fehlt - trennte ich mich deshalb von der Gruppe.

(…) Bis heute wird von staatlicher Seite zu verschleiern versucht, daß ein Geheim-dienstler an Aktionen der Guerilla beteiligt war bzw. davon gewußt hat. Im “demokratischsten Land auf der Welt” kann nicht sein was nicht sein darf. Das könnte jetzt dadurch, da ich dessen angeklagt werde, was ihr Agent tat, ein für alle Mal aus der Welt geschafft werden.

(…) Ich stand 1987 schon einmal vor einer ähnlichen Entscheidung. Damals bin ich geblieben, und schließlich verhaftet worden. Das kann ich nicht wiederholen, weil erstens die Situation heute eine andere ist, es auf jedeN ankommt, und zweitens ich mich selbst politisch weiterentwickelt habe.

Um mich aus der Abwarte-Haltung zu befreien, habe ich mir einen eigenen Abschnitt vorgenommen. Etwas für mich/uns zu tun, was ich schon als Möglichkeit ins Auge gefaßt hatte, wenn auch für später, und abhängig vom Organisierungsprozeß hier: nach Kurdistan zu gehen.

Diese Idee hat sich dann ziemlich schnell für mich konkretisiert, zumal ich eine Verbindung zu den GenossInnen habe, die bereits da sind, und obwohl es zuvor nur einzelne, unterschiedliche Berührungspunkte für mich mit dem Befreiungskampf des kurdischen Volkes gegeben hat.

Es gibt in unserem Land - wie ihr ja aus eigener Erfahrung wißt, ihr seid dort mehr politischer Faktor als wir - derzeit keine organisierte, revolutionäre Kraft oder Bewegung. Sicher, es gibt viele einzelne Menschen, die an verschiedenen Punkte gute Ini-tiativen machen, aber es gibt keine um - oder zusammenfassende Klammer. Um meine und unsere erlittene Niederlage (…) zu verarbeiten, bzw. sie gegen die Verantwortlichen zu drehen, fehlte auch der Rahmen einer kämpfenden Bewegung. Das ist auch EIN Aspekt, der mir ganz persönlich den Kampf in Kurdistan und die Aussicht, daran teilhaben zu können, näher gebracht hat.

Ausschlaggebend war allerdings, daß ich auf die GenossInnen getroffen bin, die ihre eigene Teilnahme gerade vorbereiten.

Ich habe Gleichgesinnte gesucht, um einen neuen Aufbauprozeß, der aus den Niederlagen Konsequenzen zieht, aufzubauen. Freilich sehr vorsichtig, weil wir über den Weg unsicher waren und sind. So haben wir die anderen GenossInnen getroffen. Ich stand am Anfang ihrer Entscheidung skeptisch gegenüber, weil für mich ihr Weggehen bedeutete, daß Kräfte, die wir hier so dringend brauchen, fehlen. Dann aber ist Bewegung in mein Denken gekommen, und ich sah die gute Möglichkeit, in dem Lernprozeß dort, im Kampf, in der Auseinandersetzung, in der Schulung, auch im Krieg, neue Perspektiven und Kräfte für uns zu sammeln, und gestärkt und vorbereitet zurückzukommen, gerade weil und wo es im eigenen Land so eng ist. Umgekehrt sah ich auch die Chance, die von uns gemachten Erfahrungen vermitteln zu können, nicht um darüber zu klagen, sondern um sie als entwickeltste Form der Auseinandersetzung zwischen imperialistischer Herrschaft und dem Kampf um Befreiung zu begreifen. Schwächend dafür könnte sein, daß keine homogene Gruppe gegangen ist, andererseits repräsentiert sie so eine andere Vielfalt. Unsere gemeinsamen Diskussionen waren noch sehr jung, auch im Bezug darauf, was hier weiter passieren soll. Obwohl es diese Verbindung gibt, bin auch ich erstmal eine Einzelperson, doch ich wünsche mir, mich ihnen anschließen zu können.

Ich halte mich jetzt (…) an einem der Polizei nicht bekannten Ort auf, versuche Türkisch zu lernen und mich vorzubereiten. Nach Kurdistan zu gehen ist für mich eine reale Perspektive geworden, gerade in Bezug auf die eigene Organisierung der Frauenarmee. Meine Hauptaufgabe würde ich darin sehen, wie die GenossInnen auch, uns durch Hilfe des Kampfprozesses dort vorzubereiten, zu schulen, auszubilden, um dann die Schwächen und Schwierigkeiten hier wirklich lösen zu können, und eine internationale Zusammenarbeit und Bestimmung, die dafür unerläßlich ist, gemeinsam aufzubauen.

Durch die Gruppe, die jetzt bereits unten ist, hat sich ein realer Zugang zu eurem Kampf geschaffen, der vorher so nicht da war. Sicher, solidarisch war ich immer, aber eine reale Anziehungskraft hatte er bis dato für mich wie für so viele andere hier nicht gehabt. Einerseits denke ich, weil die Kampagne Anfang der 80er Jahre durch die Staats-schutzlinke wie TAZ, Grüne, etc. gegen die PKK (stalinistisch, autoritär, Sekte, die eigene Mitglieder hinrichtet...) doch tiefere Spuren hinterlassen hat. Auch die aktuelle Propaganda des deutschen Staates ist nicht zu unterschätzen. Andererseits hat sich in der deutschen Linken die Niederlage der ArbeiterInnenbewegung, die Machtergreifung der Faschisten, als kollektives Wissen und Ablehnung von Parteien und Führung gehalten und ist heute schon fast zum Dogma und ein großes Hindernis geworden. Die grundlegende Erfahrung jedoch war Wurzel und Antrieb aller Bewegungen seit dem zweiten Weltkrieg.
Obwohl die PKK heute auch international einen ganz anderen Stellenwert hat, haben über sie viele diese Charakterisierung im Kopf. Aus der Situation international, wo der Abschnitt des antiimperialistischen Kampfes, mit “den Dörfern die Städte einzukreisen” (was die internationale Bestimmung für den antiimperialistischen und die nationalen Befreiungskämpfe war, in dem auch die RAF gehandelt und gedacht hat, und der Analyse der Weltverhältnisse: imperialistische Kernstaaten und Peripherie entsprach) zu einem Ende gekommen ist, die Weltordnung sich neu formiert hat, haben noch wenig unterdrückte Völker eine Antwort darauf gefunden. Die indigenen und schwarzen Volksbewegungen in Lateinamerika sind sicher eine Antwort darauf; obwohl ihre Völker schon seit 500 Jahren mindestens Widerstand leisten, formierten sie sich nach der Erfahrung der nationalen Befreiungsbewegungen neu. Der kurdische Befreiungskampf unter Führung der PKK hat, auch als organisierte Guerillabewegung eine zentrale Funktion, nicht nur in der Region. Daß aus der zugespitzten Situation in Kurdistan eine ständig anwachsende Stärke, gerade in Bezug auf die Befreiung der Frau möglich ist, beeindruckt mich sehr. Ich bin sehr neugierig, den Kampf anzusehen, um aus ihm zu lernen.

Ich möchte das gerne zusammen mit den GenossInnen, die bereits da sind. Mein Begriff von Internationalismus hat sich neu gestaltet. Bisher ist er von einer schematischen Reihenfolge ausgegangen: erst hier eine Bewegung aufbauen, und dann mit anderen. Wenn wir aber InternationalistInnen sind, können und müssen wir beides gleichzeitig machen. Und wir können an einem Kampf auf einem anderen Teil der Erde teilnehmen, um zu lernen, weil unser Horizont nicht an den eigenen nationalen Grenzen aufhört. Zumal wir als Metropolenmenschen unsere Situation nur wirklich verstehen können, wenn wir uns mit Augen von außerhalb betrachten.

Aus keiner organisierten Bewegung zu kommen, keine Organisation hinter mir zu haben, gibt mir das Gefühl, im Verhältnis zu den Zehntausenden kämpfenden kurdischen Menschen, sehr klein zu sein. Aber das ist eben ein Spiegel der Realität bei uns. Im Gegensatz zu euch haben wir eine Niederlage erlitten, und davon müssen wir jetzt ausgehen, um sie überwinden zu können.

Leider wurde bisher auch noch keine politische Plattform erstellt in Bezug auf internationale Beteiligung aus den Metropolen, obwohl verschiedenste GenossInnen bereits in euren Reihen kämpfen, die ich aufgreifen könnte. Ich verbinde mit diesem Schritt auch einen Eintritt in eine neue Lebens- und Kampfphase, die nicht mit meiner Rückkehr zu Ende ist. Ich will die gegenseitige Verantwortung nach meinen Kräften wahrnehmen, gerade in Bezug auf einen Reorganisierungsprozeß bei uns, auch wenn ich nie wieder legal einen Fuß auf den Boden meines Landes setzen können sollte.

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machwerk, frankfurt (2000)