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die
welt verstehen, um uns und sie zu verändern
Januar 1992
zahlreiche
genossinnen und genossen aus anderen ländern und kontinenten waren
im vergangenen jahr zu besuch bei uns. aus mittel- und lateinamerika,
puerto rico und den USA, aus dem arabischen raum und kurdistan... sie
haben auf veranstaltungen geredet und gespräche im kleinen kreis
gesucht. in den gesprächen gaben sie uns und unserem kampf eine bedeutung auch für sie und ihre länder, die nur unzureichend in dem alten satz von che gefaßt ist: im herzen der bestie. sie sagten
uns aber auch ein paar sätze gegen die selbst-überschätzung.
wir würden uns täuschen, wenn wir glauben, die sozialen und
antiimperialistischen bewegungen in den metropolen könnten allein
den kampf gegen die bestie bestehen. der antiimperialistische kampf ist
ein weltweiter prozeß. die welt ist aber größer
als die nordhalbkugel. vor diesem
hintergrund geht es uns gegen den strich, vom reformistischen minimalkonsens
der forderung nach schul-denstreichung zu reden, wie es der münchener
AK tut, und dem eine weitgehende antiimperialistische ausrichtung
gegenüberzustellen. für uns ist es vielmehr die frage, ob eine
solche maßnahme den völkern im süden eine atempause verschaffen
kann, ob zumindest der verelendungsprozeß verlangsamt wird. mehr
wäre schuldenstreichung nicht. aber vielleicht ist es genau das,
was gebraucht wird, um weitergesteckte zwecke verfolgen zu können.
zum beispiel reparationszah-lungen für die aus 500 jahren kolonisation
und sklaverei ausgepreßten reichtümer. was sind
die erfahrungen der volksorganisationen wie der poder popular in el salvador
und kolumbien, oder der autonomen formen der sozialen und medizinischen
selbstversorgung auf den philippinen, der organisierung in den elendsvierteln
in istanbul, oder der antirassistischen/kulturellen projekte des schwarzen
ghetto-widerstandes in den USA oder der indigenas auf dem amerikanischen
kontinent? der kapitalistische sieg über den sowjetstaatlichen sozialismus ist nicht das 'aus' für den sozialismus überhaupt. schon gar nicht das ende der geschichte, wie es die propagandisten der kapitalistischen demokratie verkünden. obwohl gerade die westdeutsche autonome und antiimperialistische linke großteils entwicklungen in osteuropa ignoriert hat, tun heute viele so, als wenn sie ihr herz an die sowjetunion verschenkt hätten. es ist schwindel, die ursachen unserer eher desolaten situation im zusammenbruch des 'realen sozialismus', in der einverleibung der DDR, in der stärke, die der imperialismus daraus bezieht, zu behaupten. der pessimismus der westdeutschen linken wurde von den genossinnen und genossen aus anderen ländern so gut wie gar nicht geteilt. sie vermittelten eher zuversicht - einen elan, der aus den schlüssen kommt, die sie aus der entwicklung und ihren kampferfahrungen ziehen. in lateinamerika ist es z.b. die konsequenz, sich viel stärker im regionalen und kontinentalen maßstab in diskussionen, bündnissen und kampagnen zusammenzuschließen. dort ist das heute insbesondere die ge-genmobilisierung zu den pompösen jubelfeiern der 500jährigen eroberung amerikas. zu ganz paradoxen ergebnissen führt die immer engere verzah-nung der verhältnisse in unseren ländern. die vom internationalen kapital favorisierte lebensweise mit der speziellen mi-schung aus hochdifferenzierter lohnarbeit, freizeitindustrie und konsum, single oder kleinfamilie ist höchstens gut für 1/10 der menschheit. die mehrheit muß ums tägliche überleben bangen. die wohlstandsinseln verteilen sich mitsamt allen attri-buten und statussymbolen über den ganzen globus konzentriert im norden. umgekehrt breiten sich die elendsquartiere über die ganze welt aus - selbst in den reichen ländern. das zu
sehen redet nicht einer gleichsetzung des deutschen sozialhilfeempfängers
mit der brasilianischen landarbeiterin das wort. zwischen beiden liegen
welten ökonomischer ungleicheit; zwischen beiden liegen rassistisch
und sexistisch begründete privilegien und benachteiligungen. diese elendsorte haben in deutschland nicht das ausmaß des trikonts. aber hinter den ostgrenzen des neuen deutschlands schaffen jahre unzulänglicher planwirtschaft und wenige mona-te marktwirtschaft eine gigantische elendskolonie. in ihr etablieren sich die wohlstandsinseln als von EG und NATO anerkannte staaten, z.b. die baltischen republiken oder slowenien. kein wunder also, daß die menschen überall auf der welt vor verhältnissen flüchten, die ihnen keine möglichkeit lassen, unter menschenwürdigen bedingungen zu leben. millionen flüchten in die städte des trikonts. millionen flüchten dahin, wo sich der reichtum der welt sammelt: in den norden. zur massenhaften republikflucht aus der DDR wurde in west-deutschland der begriff der abstimmung mit den füßen geprägt. die weltweiten fluchtbewegungen stimmen gegenwärtig über den weltweiten kapitalismus ab. seit der ersten entwick-lungsdekade der UNO in den 60er jahren haben sich die le-bensbedingungen für die mehrheit der menschheit aufs ex-tremste verschlechtert. vergleiche finden sich schon lange nicht mehr. auch für unsere europäischen länder bedeuten die internationalen veränderungen soziale und politische verschär-fungen. revolten und explosionen in ghettos der französischen vorstädte und betonsilos gehören zu den trommelschlägen dieser zeit. neben den zonen der high-tech-produktion und des metropolitanen lifestyle, entstehen genauso armutsregionen. die auswirkungen in der BRD werden wir zigmal weniger zu spüren kriegen als die menschen im südlichen frankreich, in portugal oder in griechenland. die BRD ist der gewinner des europäischen zusammenschlusses. das 'mildert' die folgen für unseren lebensstandard. das sollten wir nicht vergessen. europa ist groß geworden und darin das imperialistische deutschland. viele genossinnen und genossen aus anderen ländern schätzen die entwicklung so ein, daß die BRD im jahre 2000 die stärkste macht in der welt ist. wir wissen nicht, ob das so sein wird, aber jetzt schon ist klar, daß sich die europäischen großraumpläne des deutschen kapitals erfüllt haben. die osteuropäische staatenwelt wird aufgeteilt und neugeordnet. die BRD mischt überall führend mit. in Jugoslawien hat sie im rahmen der EG faktisch ein hochkommissariat übernommen. der zusammenbruch der planwirtschaften ist hausgemacht, ergebnis u.a. jahrelanger schwindelei mit produk-tionsplänen korrupter eliten. ihre sozialismusvorstellungen kannten das volk nicht als subjekt, sondern nur als objekt staatlicher fürsorge, eben beglückung oder gängelung von oben. ihre herkunft aus sozialdemokratischen und preussischen sozialstaatsideen (bismarxismus, wie mühsam sagte) konnten sie abstreifen. heute
jedoch veranstalten die westlichen staatschefs und banker im einklang
mit den 'nationalen führungen' in osteuropa einen polterabend, bei
dem kaum ein stück heil bleiben wird. aber es ist ein knackpunkt - so wie auch der golfkrieg und die zukünftige militärische 'verteidigung' in aller welt, und die abschottung der wohlstandsinseln gegen die flüchtlinge. wo werden wir sein? bei denjenigen, die das 'abendland verteidigen', wie jetzt schon ehemalige linke? oder werden wir zu denen gehören, die die 'festung europa' von innen knacken?! wir sehen
für eine neubestimmung des linken, radikalen kam-pfes sehr wohl genügend
anlaß. wir können uns die erarbeitung dieser neubestimmung
aber nicht vorstellen, ohne in einem fluß von praxis und neuen erfahrungen
zu sein. die 500 jahre/WWG-mobilisierung ist für uns eine form von
praxis, bei der wir neue erfahrungen machen, impulse kriegen, gerade im
austausch mit genossinnen und genossen aus anderen ländern, und auch
die vagen konturen der neubestimmung, die wir ja alle schon irgendwie
im kopf haben, überprüfen können. |
machwerk, frankfurt (2000)