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Noch
nie in meinem Leben habe ich mich so aufgehoben gefühlt
Brief nach ihrer Ankunft im mittleren Osten, 1996 (Auszüge) ... Noch nie in meinem Leben habe ich mich so aufgehoben gefühlt, noch nie haben sich so viele Leute um mich gekümmert. Das hat nichts mit meiner "exponierten Stellung" zu tun, sondern ist ihr allgemeiner Umgang, Verständnis von Mensch sein und ein Ziel, das sie anstreben... Ich habe also nach dem "Erziehungsmodell" zu suchen begonnen. Sie sagen dort - bei ihnen - lernst du dich erst richtig kennen, entwickelst du ein systematisches Denken über deine Herkunft, was dich prägt, deine Schwächen und deine andere, menschliche Seite. Mit diesem Verständnis kannst du, unterstützt von deinen GenossInnen durch Kritik und Spiegelung im Innern, deine eigene Arbeit an dir selbst aufnehmen. Ihre Erfahrung ist auch, daß in den Lehrgängen ein Bewußtsein über die kolonisierte Persönlichkeit, die sich in den Einzelnen breit macht, entwickelt wird, mit dem alle konfrontiert sind. Obwohl die Menschen aus ganz unterschiedlichen Hintergründen kommen - aus kleinen Dörfern, großen europäischen Metropolen, Universitäten und manche können gar nicht schreiben, etc. ist die Bewertung aufgehoben. Im Begriff der notwendigen Veränderung von sich selbst, die jedeR tun muß, ist niemand besser - weiter, sondern eine Herausforderung, die nur gemeinsam zu lösen ist. Das Niveau "Selbstkritik zur Waffe machen", was es bei uns früher auch mal gab - was eine Überwindung der konditionierten Charakterzüge bedeutet; und nicht das entwaffnete "Ich bin eine arme Sau, ich kann halt nicht anders" oder dieses Wühlen in den eigenen Unzulänglichkeiten, das bei uns mittlerweile Einzug gehalten hat, im maßlosen Individualismus, und Subjektivismus, das eigentlich nur die eine Message transportiert: "Veränderung ist nicht möglich". Auf jeden Fall nehmen sie auf diesem Level jedes noch so kleine Problem sehr ernst, denn auch wenn sie auf Fehlern nicht rumhacken, ist es doch notwendig, sie genau zu analysieren, denn jedes kleine Problem im Innern kann sich zu einer riesigen Dimension ausweiten, wie sich (sag ich jetzt) z.B. an der Niederlage der ArbeiterInnen in Deutschland gezeigt hat. Ihre fast schon Selbstbehinderung durch die Struktur, die die politische und militärische Funktion trennte, kam aus dieser Vorstellung, daß die Arbeit am "neuen Menschen" erst dann aufgenommen wird, wenn die äußeren Umstände aufgehoben sind, sprich die Revolution gemacht ist. Damit hat die KPD die Massen der ArbeiterInnen in einer solchen Unmündigkeit und Hierarchie gehalten, daß zum Zeitpunkt der größten Not dem Faschismus nichts entgegengesetzt werden konnte... Auch die
Frauenfrage hab ich zu beleuchten begonnen. Ich hatte schon die erste
negative Erfahrung mit einem Freund, der mir sagte, daß die europäische
Frauenbewegung ja nur die Partizipation am System, Gleichstellung will.
Mich hat das wütend gemacht und verletzt. Seit Jahrhunderten reden
Männer darüber, was Frauen machen, sind, bewerten, ohne auch
nur die geringste Ahnung zu haben. Ich habe ihm das gesagt und es war
ein produktives Gespräch. Ich sagte ihm, daß ich den Eindruck
hätte, daß das der politische Begriff der Frauenbewegung in
den Metropolen sei, wie er in der Partei gelehrt wird. Es ist auch etwas
Richtiges dran. Aber es gab auch noch und gibt ganz andere Teile. Er hat
mir sehr aufmerksam zugehört und gesagt, er war nicht sorgsam genug.
Sie haben auf dieses Gebiet vor allem deshalb soviel Gewicht gelegt, weil
es Erfahrungen gab, wie schwach und hinderlich der Kampf wurde. Also,
das sich breit machen der individuellen Auswege, des Egoismus, eigenen
Nutzen aus jeder Lage ziehen. Daß Frauen gemäß ihrer
Konditionierung und Männer gemäß ihrer, und in den Beziehungen
speziell begehen. So sind Pärchen, die sich bei der Guerilla kennenlernten,
z.B. in gefährlichen Situationen geflüchtet usw. Ja, das sind jetzt nur einzelne Ausschnitte. Ich habe mit einem Freund über die Kamikaze-Aktionen gesprochen, gegen die ich einen großen Widerwillen habe. Wir kämpfen schließlich für das Leben, und nicht, um zu sterben. Auch wenn ich verstehen konnte, daß diese Aktionen bei vielen, die von den Nachrichten über die ständigen Angriffe und Kämpfe schon keine Notiz mehr nehmen, ein großes Echo hervorgerufen haben, müssen, ähnlich wie bei einem Hungerstreik, sie die Hintergründe verstehen wollen und das selbstlose Beispiel der Frauen in noch mal ganz anderen Schichten hineingewirkt hat, stößt mich das ab. Gestern sprachen wir noch einmal darüber, daß eine Partizipation ohne Verwurzelung in der Bewegung nicht möglich ist. Das ist ihre Konsequenz aus den Erfahrungen mit den EuropäerInnen, die die Schulung, die Ausbildung, das Training und alles mitgemacht, mitgenommen haben und dann zurückgekehrt sind und nichts tun. Sie sehen sonst keinen Sinn darin, ihre Strukturen zu öffnen. Das konnte ich rational schon verstehen, gleichzeitig bekam ich plötzlich Angst. All die Zweifel kehrten wieder - ist das die richtige Entscheidung" - "entferne ich mich dadurch von der Lösung der Probleme in meinem Land" - und auch "begebe ich mich in etwas hinein, wo ich dann nicht mehr selbst bestimmen kann, was ich tue" - "verändere ich mich zu etwas, was ich nicht will" usw. Ich verlor richtig den Boden unter den Füßen, fühlte mich so allein, keine GenossInnen mit denen ich mich beraten kann. Andererseits würde mir welche, die nur gespickt mit Mißtrauen die Organisation beäugen, auch nichts nutzen. Ich bekam auch eine Wut auf alle, die die Organisation so links liegen lassen, denn gäbe es da eine andere Beziehung, wäre ich nicht so alleine und hätte dann natürlich auch das, was wir hineintragen können, eine ganz andere Wirkung, Gewicht und könnte vielmehr dazu beitragen, eine Lösung zu finden. Mich ärgert auch dieses Behandeln als Sekte, sie würden mich/uns zu sich "rüberziehen", um nur für sich Nutzen daraus zu ziehen und nicht für die Sache, den Kampf an sich. Das hat natürlich auch damit zu tun, wieweit ich die Prinzipien und Kriterien als revolutionär begreife, oder ob ich sie wie auf dem Weltmarkt zu einer Trade Mark mehr erkläre, die um die Marktvorteile ringt. Auf jeden Fall habe ich mich dann noch mal auf diese Frage hin überprüft, wie ich sie kategorisiere und was ich auch selbst darin will. Wie du ja weißt, denke ich, daß sie an den zentralen Momenten, die heute für einen revolutionären Prozeß notwendig sind, egal vor welchem kulturellen, historischen oder ökonomischen Hintergrund, dran sind. Das ist die Frage der Entwicklung einer anderen Persönlichkeit, worin die Frau-Mann-Frage von Anfang an angelegt ist, die Organisierung an sich und das Erlangen von Veränderungen, die die Botschaft: "Es ist möglich" transportieren, also Hoffnung ist. Diese Ideologie ist für mich auch das, was bei uns fehlt, so ist der Weg mit ihnen für mich die Möglichkeit, neben dem mich selbst zu entwickeln, diesen Prinzipien gemäß, auch bei uns einen Organisierungsprozeß aufzubauen. Ganz das Gegenteil von mich zu entfernen. Und die Angst mich "auszuliefern" ist angesichts dieser Überzeugung bloß das Zurückschrecken vor der Veränderung. Die alte Bequemlichkeit, die mich ruft, weil sie ahnt, daß es ihr da an den Kragen gehen wird, wo der Individualismus aufhört. Diese Angst übertrage ich dann einfach auf die Strukturen von ihnen. All die Gerüchte von Liquidierungen in den eigenen Reihen, Führungsstrukturen, die die eigenen Mitglieder verheizen, fast schon faschistoide Methoden und Strukturen - taucht in Bildern vor mir auf. Dieser Rotz, den auch viele von uns benutzen, um sich abzugrenzen, (sowie für Abgrenzung bei uns immer viel mehr Energie aufgebracht wird, anstatt sich zu überlegen, was man tun kann und will um etwas zu verändern). Ich schüttle diese ganze Propaganda von mir ab. Sie sagen ganz klar: Ohne Freiwilligkeit der Menschen ist der Entwicklungsprozeß nicht möglich, schließt sich aus mit Befreiung. Ich will mich selbst auch nicht mehr an diesen negativen Bildern aufhalten, die letztlich das menschliche Ur-Mißtrauen sind - sondern mich den positiven Werte, Möglichkeiten und Vision zuwenden. Das Vertrauen in mich, die Menschen und die Revolution entwickeln! ... Ich will jetzt nicht in diese Ideologie verfallen, die sagt: alle müssen zu ihnen, mit ihnen - das ist der einzige Weg. Aber erstens macht es mich traurig, wenn es mit den GenossInnen, die mir nah sind, kein gemeinsames Verständnis davon gibt. Weil ich eben nicht nur gehe, weil ich sowieso weg mußte. Du weißt, es hätte auch andere Möglichkeiten für mich gegeben. Ich gehe da hin, weil ich die Prinzipien und Werte richtig und notwendig finde und weil ich auf der ganzen Welt keinen anderen Ort, keinen anderen Prozeß kenne, der sie für sich aufstellt und umsetzt. Zweitens sehe ich bei "uns" keine wirkliche Anstrengung diese Prinzipien zu erkämpfen, umzusetzen und damit das große mögliche Potential an Leuten zu erreichen und zu organisieren. Statt dessen wird im eigenen Saft geschmort, sich im Kreis gedreht, zerfleischt, und sich mal ein bißchen beschäftigt ... Das kollektiv-subjektive Niveau, Fehler aufzuarbeiten und daraus zu lernen ist nicht vorhanden, so wird jeder Tiefschlag zur absoluten Niederlage. Drittens sehe ich die Partei auch nicht als etwas "fertiges". Permanent geht es darum, sich den neu stellenden Anforderungen gemäß zu entwickeln, als einzelne, wie auch als gesamte Organisation mit ihrer Politik. Deshalb hätte, wenn sich viele Einzelpersonen und Gruppen aus den imperialistischen Zentren sich ihnen annähern, in zwei Richtungen eine Wirkung: Für die Leute selbst, wenn sie mit den Visionen, Werten und der Arbeitsweise konfrontiert werden. Und für die Organisation, wenn sie mit dem konfrontiert wird, was die EuropäerInnen mitbringen, den Problemen, als auch den Fähigkeiten. Das könnte nicht nur das Verständnis der totalen Durchdrungenheit vom Kapital in seinen sichtbaren und fühlbaren Auswirkungen schärfen, sondern auch die gemeinsamen Möglichkeiten und notwendigen Schritte zur Befreiung davon schaffen. Jetzt bin ich schon wieder gezügelt und bin plötzlich mit so vielen verschiedenen Leuten zusammen auf sehr engem Raum. Nach den eineinhalb Jahren "Isolation" ist das neben meinem grundsätzlichen europäischen "Raumanspruch" ein großer Kontrast. Zusammen mit meinen Sprachschwierigkeiten fühle ich mich zeitweise sehr einsam, aber das habe ich ja vorher gewußt, daß diese Umstellungszeit hart werden wird. Aufgefangen wird das dafür mit der Herzlichkeit mit der ich empfangen werde, und dem wirklichen Interesse an mir und der Linken in Deutschland - das macht alles wieder wett. Es gab für mich in diese Richtung fünf "größere Diskussionen", die eigentlich alle darum gingen, wie sie uns stärken, helfen können, vorausgesetzt natürlich, es gibt eine wirklich ernstgemeinte Anstrengung, Leute, die es ernst meinen und die mit den Werten von ihnen etwas anfangen können und wollen. Gestern abend, ich hatte einen sehr anstrengenden Tag und wollte gerade schlafen gehen, als mich ein Freund in die "Zange" nahm. "Wieso die Linke in Deutschland 1918 trotz ihrer Massenbasis keine Revolution gemacht hat" - "Wieso die Deutschen, obwohl sie so viele philosophische Denker hervorgebracht haben, keine entsprechende Praxis entwickelt haben" - "Wie ich mir eine Revolution vorstelle, die Schritte dahin". Ich kam kaum dazu Luft zu holen - "was ich an dem Modell PKK für uns sehe" usw. Ich konnte nur eine Frage stellen, es war wenig Zeit und es mußte auch immer hin- und her übersetzt werden - wie sie sich denn die kurdische Revolution denken, ohne eine grundsätzliche Veränderung in den Metropolen - er sagte sie seien sich dessen bewußt und würden jeder wirklichen Initiative aus dem deutschen Volk helfen wollen - aber übernehmen können sie eben nichts, das müßte schon von dort selber kommen. Eigentlich war es eine sehr wichtige Diskussion, aber ich war so müde und so allein, daß ich mir sehr wünschte, mit einer Gruppe dort zu sein, um sich ergänzen zu können, austauschen zu können und dann auch zusammen zu handeln. So habe ich manchmal das Gefühl ich gebe viel zu subjektive Antworten. Ich bin gespannt wie sich das noch entwickeln wird, schließlich soll das ja ein Prozeß sein, der nicht mehr abreißt, und es gibt ja auch schon einige, die dort sind. Natürlich ist es auch so, daß die Ziele und angepeilten Veränderungen nicht überall und durchgängig umgesetzt sind. Dafür ist die Herkunft der Menschen und all ihrer Probleme zu schwerwiegend und unterschiedlich. Aber was wichtig ist: Es sind Schritte sichtbar. Schließlich ist es ein langwieriger Prozeß und keine Sache von heute auf morgen. Diese Schritte sind real und verkünden die Möglichkeit, daß es erreichbar ist. Sie sagen aber auch, daß es für diesen schweren Weg eine feste Überzeugung (Ideologie) und eine Führung notwendig ist. An die positive Besetzung des Begriffs Ideologie muß ich mich erst noch gewöhnen. Bei uns wird damit ja Unflexibilität, Dogmatismus, Praxislosigkeit und vor allem Abgrenzung zu anderen verbunden. Aber ich staune wirklich welche Kräfte, welchen Mut sie freisetzen. Die Führungsfrage ist für mich, unabhängig von ihnen, ja schon beantwortet. Ich denke eben auch, daß Menschen, die die alte Persönlichkeit hinter sich lassen und so eine reale Alternative zum Kapitalismus sind, die einzige Chance ist, den Kampf zu führen und zu verbreitern, anziehend zu machen. An diesem Punkt macht mir mein mangelndes Selbstvertrauen einen Strich durch die Rechnung, gespickt mit allen Niederlagen, aus denen ich komme, traue ich mir das nicht zu.
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machwerk, frankfurt (2000)