Leben und Kampf von Andrea Wolf
Seiten 107-122
Tagebuch aus Kurdistan
April - August 1997


21.04.1997
Ich schreibe einen neuen "Bericht", zweiter Abschnitt: Berge. Es ist schon soviel passiert, daß es einfach schade ist, daß ich es nicht gleich aufgeschrieben habe. Jetzt ist der Rückblick begradigend. Wir sind fast drei Wochen unterwegs. Gerade ist Abenddämmerung, Bilder aus Europa, von Euch ziehen an mir vorbei. Was ihr alle wohl macht? Wie es Euch geht? So lehrreich, interessant und schön es hier ist - bis auf ein paar Luftangriffe habe ich noch keine Kriegssituation erlebt - ich freue mich auf ein Wiedersehen mit Euch - mit allen. Momentan bin ich im Asker EŒitim, militärisches Training, weit ab vom Hauptquartier, das ständig bombardiert wird. Sie wissen auch vom Funk, wann neue Gruppen kommen, dann fliegen sie erst recht. Obwohl dies hier irakisches Territorium ist, werden die türkischen und israelischen Kampfflieger hier aktiv (F16 u.a.). Wir sind ca. 20 Frauen und doppelt so viele Männer. Alles organisieren wir getrennt. Schlaf, Essen, etc., obwohl es eine gemeinsame Logistik gibt. Das ist sehr angenehm. Im Unterricht (7.30-11 und 13-16 Uhr) lernen wir Waffen kennen, putzen schießen, strategisches Vorgehen etc. Wir stehen um 4.30 Uhr auf, machen um 5 Uhr eine Stunde Sport, Frühstücken, waschen uns ein bißchen und dann geht's los. Wasser wird langsam zum Problem, es ist so heiß, daß die Bäche austrocknen, dabei ist es Frühling.

Ich werde nach der Ausbildung in die YAJK-Zentrale gehen und dann mit Ihnen weiter schauen. Jetzt bin ich also PKK-Guerilla. Ich fühle mich eigentlich noch ganz normal, die Kleidung ist etwas ungewohnt, vor allem wenn du aufs Klo gehst, mußt du den 10 Meter langen Schutik öffnen. Den hast du unterm Patronengurt, damit die Magazine und alles nicht so in die Haut schneiden. Nach dem Unterricht machen wir eine 1/2 Stunde Tekmil, das ist eine kurze Auswertung des Tages, Kritiken, Gedanken. Jede Versammlung innerhalb der PKK hat einen geregelten Ablauf. Es wird eine Versammlungsleitung gewählt, die das Wort erteilt, durch die Sitzung führt und sie beendet. Die Beiträge sind frei, das eigene Denken, niemand will dich überzeugen. Sicher, wenn jemand etwas ganz anders sieht, wird sie/er das auch sagen, aber es ist insgesamt eine sehr angenehme Atmosphäre. So meine lieben GenossInnen, soviel für heute.


24.04.1997
Gestern kam ich beim besten Willen nicht zum Schreiben. Der Unterricht dauerte so lange, dann noch im reißenden Fluß Haare und Wäsche waschen, schon ist der Tag vorbei. Es wird gesagt, daß die Leute in den Bergen leicht versimpeln. Das kann ich gut nachvollziehen. Essen, schlafen, Holz holen, Wäsche waschen, nähen, Waffe säubern - das war's dann schon so ungefähr. Aber eigentlich wollte ich ja von Anfang an erzählen. Wir sind aus der Schule raus über die Grenze zu Fuß gegangen. Vorher sind wir noch eine Stelle angelaufen, wo wir Guerillaklamotten und Waffen bekommen haben. Dort haben wir auch zwei Nächte übernachtet. Der Marsch war gewaltig, 10 Stunden, die ganze Nacht im Dunkeln nur marschieren, marschieren. Es kostet auch mehr Anstrengung als militärische Formation zu gehen, als wenn du alleine gehst. Du mußt mal viel langsamer gehen und mal viel schneller. Angekommen sind wir dann bei einer Felsspalte, wo ich mich, wie ich war, in den Dreck gehauen habe. Alles egal, Hauptsache schlafen. Ich bin auch das erste Mal während des Marschierens eingeschlafen. Man geht in Mangas, 6 bis 7 Leute, Takims gleich zwei Mangas, und Bölüks gleich zwei Takims. Du hast dafür zu sorgen, daß du Vorder- und Hinterfrau nicht verlierst, aber auch wenn die vorne stehen bleibt, du nicht drauf rumpelst. Falls was ist, wird es von Genossin zu Genossin weitergesagt. Die Kommandanten haben auch Funk, aber es ist eigentlich nur für Fälle, wo es nicht anders geht, gedacht. Da der Feind natürlich mithört, wird verschlüsselt geredet. Inwieweit das klappt, kann ich nicht beurteilen. Der Weg war zwar ziemlich uneben, aber nur ab und zu steil. Als ich aufwachte, vor Kälte, es war noch kein Frühling, waren auch Journalisten da, die eine Reportage machen wollten. Sie haben mich gleich überfallartig interviewt. Wir haben den ganzen Tag dort verbracht, mit Tee trinken, schlafen essen, waschen, etc. Es ist alles ja auch extrem zeitaufwendig. Erstens mußt du als Frau ganz weit von den Männern weggehen, obwohl die eigentlich diejenigen sind, die ein Problem damit haben, sie kommen sofort in das alte Objektverhältnis rein, müssen wir das ausbaden. Selbst sich in Gegenwart eines Mannes die Haare zu kämmen, ist nicht drin.

Szenenwechsel: Gerade sind wir auf einem Manöver, mit Gepäck in Deckung. Am Vormittag gingen wir, das Wasser achselhoch, durch den Fluß, dann am Boden robben.
Wir sind in Stellung, ich habe Tee gekocht, die anderen reden kurdisch. Für mich ist es ein neuer Anfang, wieder verstehe ich kein Wort, wo ich gerade so weit war, das Türkische gut zu verstehen. Ich weiß gar nicht, ob ich gleich versuchen soll, das auch noch zu lernen oder ob es dann das Türkische verdrängt. Es ist schon so, die Parteisprache ist Türkisch, die der Guerilla, der Praxis, Kurdisch.

Zurück zu unserem Weg. Als wir gegen Mittag die Felsspalte verlassen wollten und den nahegelegenen Fluß überquerten, wurde die erste Gruppe von der KDP angegriffen, und zwar, als sie schon auf der anderen Seite, also von uns abgeschnitten war. Es gab am Ufer auf der anderen Seite sogar noch ein Gespräch mit der KDP. Als dann Verstärkung kam und unsere Gruppe beim Gespräch sozusagen von zwei Seiten angegriffen wurde, der Teil der Gruppe die nicht beim Gespräch war, war auf einem Hügel, konnte das zwar alles sehen, aber nichts machen, weil die eigenen Leute in der Schußlinie waren. Die KDP hatte dann trotzdem zwei Verluste, von uns war nur ein Genosse vermißt. Er tauchte zwei Tage später wieder auf. Wir, die anderen Gruppen, bezogen Schutz in der Felsspalte und, wie kann es anders sein in solchen Momenten, es fing fürchterlich an zu regnen, kalt war es und am Himmel die Raketen und die Schüsse. Als es richtig dunkel wurde, war es zu Ende. Um 5 Uhr morgens brachen wir auf, um den Platz zu wechseln. In einem Bachtal wärmten wir uns, kochten Tee, wuschen die Gesichter. Der Tag war warm, wir schliefen etwas, schließlich schlachteten wir noch Schafe. Das war ein leckeres Essen, obwohl die Hälfte daraufhin kotzte und die anderen Durchfall bekam. Gerade als wir aufbrechen wollten, fing es an zu schneien. Es war schon eine Art Härteprüfung. Alles neue, unerfahrene und unausgerüstete Leute in einer Falle, wo nicht klar war, ob die KDP nicht den Fluß überwacht. Kein Essen mehr und dann noch Schnee. Die letzten zwei Nächte nicht oder kaum geschlafen usw. In dieser Situation hat die Struktur unserer Manga zu nerven angefangen. Es war dann noch zusätzlich eine Art psychologischer Krieg. (...)

Unser Marsch dauert insgesamt neun Tage. Von dieser Manga bin ich zwischenzeitlich ziemlich genervt. Wir schaffen es tatsächlich, in kleinen Gruppen mit mickrigen Schlauchbooten den Fluß zu überqueren. Die KDP läßt sich nicht mehr blicken. Ich stehe den ganzen Nachmittag am Ufer. Vielleicht auf Grund meiner Körpergröße denkt der Kommandant, ich sei ein Mann. Zusammen mit noch einer Großgewachsenen gehen wir in die letzte Überfahrt. Alles ist dunkel, der Fluß ist reißend und gefährlich. Schon viele GenossInnen hat er verschluckt. Als wir das Steilufer hochkommen, geht's gleich los zu unserem Gewaltmarsch. Durch kniehohe Schlammwege, im strömenden Regen und höchster Dunkelheit torkeln wir dahin. Eine Gruppe alter Guerillas begleitet und führt uns. Mir scheint das manchmal wie Mondlandschaften, verschlammt und trostlos. Am Horizont die Berge, der Mond, unser Lichtblick. Um 5 Uhr morgens kommen wir an einem Stützpunkt an. Die Gruppe, die durch die KDP getrennt wurde, ist schon dort. Die Empfangsgeste: Sie holen Wasser für uns. Wir erholen uns den Tag über, die Frauen sind in einer Höhle. Als um 19 Uhr der Abmarschbefehl kommt, sind alle mehr am Ende als sonst was. Die Journalisten streiken, also bleiben wir die Nacht über. Am Tag verteilen wir uns wegen etwaiger Luftangriffe. Wir marschieren bei Sonnenuntergang los. Die Wege sind besser, aber wieder liegen acht Stunden vor uns. Für die Journalisten sind Pferde organisiert. Manchmal kommen wir an Dörfern vorbei, wo die Hirtenfamilien uns nachstarren. Immerhin sind wir über 100 Leute, die meisten bewaffnet. Wir gehen in unterschiedlicher Weise, je nach Gefahrenlage, mal 2-2 mit 5 Metern Abstand, mal Manga-Manga, mal tek-tek, einzeln. Als wir die Seitenstraßen überqueren wollen, müssen wir uns zurückziehen, Autos stehen am Weg. Wir warten in einer "Neubausiedlung”, d.h. Ein-Zimmer-Häuser, dann rennen wir bei den Lücken. Wieder morgens um 5 Uhr kommen wir bei einem weiteren Stützpunkt an, einer Höhle. Hinten lagert der Kommandant, ein Parlamentarier, die Journalisten. Drei Stunden auf nacktem Stein, wir wärmen uns aneinander und am Feuer. Dann ein schneller Aufstieg. Ich schere das erste Mal aus, renne mit den Männern mit, ein Genuß. Auf dem Gipfel, einem Steinplateau, Tee trinken bei herrlichster Aussicht.

Szenenwechsel: Wieder zurück zu unserer Militärausbildung. Es ist halb 8 Uhr morgens. Ich liege auf einer Wiese, noch ist nicht alles verbrannt und braun, sondern grün, frisch. Das erste Mal, seit ich im Land bin, serbest, frei, kein Programm. Wir sind gestern fünf Stunden marschiert, anstatt zu schlafen. Die Ausbildung dauert, soweit ich gehört habe, 15 Tage. Gestern sind wir schon an einen Härtegrad herangekommen. Man munkelt, daß eine Operation der türkischen Armee bevorsteht. Hoffentlich nicht, daß wäre mir gerade eine Nummer zu viel. Physisch baute ich in der Schule schon ziemlich ab. Das jetzt alles wieder drauf zu kriegen, ist unter den gegebenen Umständen fast unmöglich. Psychisch bin ich o.k.. Auch, wenn ich mich manchmal sehr einsam fühle. Aber das habe ich ja vorher gewußt. Ich versuche die Zähne zusammenzubeißen bei den schwierigen Situationen. Ich merke auch, die Haltung aus der Zeit vorher, durchhalten. Ich komme schwer aus ihr heraus. Obwohl ich jetzt ja angekommen bin. So gehe ich hier mit einer „feindlichen” Grundstimmung herum, die unnötig ist. Der momentan noch einzige Feind ist die Natur.

Zurück zu unserem Anmarsch. Das ist ein unbeschreibliches Gefühl, in den Tagesanbruch hinein, rechts und links schneebedeckte Berge und Gipfel aus Fels. Du gehst ins grüne Tal hinunter, verschiedenste Blumen und Kräuter, klare Bäche, manchmal sieht es aus wie in der Schweiz. Manchmal wie ein Canyon. Dort ruhen wir uns aus und werden mit Autos zum Stützpunkt gefahren, wo wir den Nachmittag verbringen. Der Frauenteil ist immer so weit abgelegen, daß du dich wenigstens ein bißchen Waschen kannst. ... Sie haben auch ein Loch als Klo gebuddelt und es gibt einen Eimer mit Wasser. Da ist es gut, daß es an jedem Stützpunkt einen Bach oder wenigstens eine Quelle gibt.
Auch hier werden wir wieder mit Essen und Wasser begrüßt. Die Füße sind geschwollen, aufgeplatzt.

Zurück zu unserem Asker-EŒitim. Wir leeren die Rucksäcke. Schweren Herzens trenne ich mich von dem Handtuch, daß mir eine Freundin schenkte. Auch die Steine müssen dran glauben. Bei Vollmond in fließendes Wasser geworfen letzte Nacht. Soll die Verbundenheit aufrechterhalten, aber falsche Abhängigkeiten reinwaschen. (...) Im Moment ist alles unsicher, es kann sein, daß es bald eine Operation gibt und wer das überlebt, ist ja noch nicht ausgemacht. Deshalb werden wir unseren Platz wechseln und müssen flexibel sein. Wo ich das hier sehe, ist es wahnsinnig zu denken, wir könnten schriftlich Kontakt halten. Ich habe auch bisher zwei Briefe, kurze und einen längeren Ausschnitt aus meinem für euch angelegten Buch geschickt. Ich weiß weder, ob euch das alles erreicht hat, noch ob ihr schon mal was geschrieben habt bzw. wenn ja, wo es hängt. Da ich erstmal in die YAJK-Zentrale gehen werde, ist es fast noch einfach, daß ich Post bekomme. Ich warte schon sehr. Ich verstehe auch nicht, daß in diesen 1 1/2 Jahren, wo ich in der Schule war, mich nichts erreicht hat. Nayse (schon gut)


26.4.1997
Der Unterricht ist nach einer Woche überraschend abgebrochen worden. Ein Großteil der Gruppe ist nach Zagros in den Krieg mit der KDP, der durch die Türkei entfacht wurde. Wir, ein kleiner Teil, sind in die YAJK-Zentrale. Alles ist in Aufregung, alles wird neu geordnet, alle werden neu eingeteilt.
Der Frühling schlägt schon gnadenlos zu - mein Gesicht ist schon völlig verbrannt, mein Körper von unzähligen mückenartigen Fliegen zerstochen. Wir sind eigentlich Tag und Nacht im Freien. Der Name „das wilde Kurdistan” trifft für die Landschaft wirklich zu. Felsige Hügel, grüne Oasen, Kräuter, schneeige Gipfel, Stein. Ich sammle Kräuter, wilde Pfefferminze, Thymian, Salbei.

Unsere Reise geht weiter: Als am Nachmittag der Aufbruchbefehl kommt, stöhnen alle. Die gewaschenen Klamotten packen wir naß in die Taschen, die nassen Haare werden schnell zusammengebunden. Das Lager wurde vor einem halben Jahr ernsthaft bei einem Bombardement getroffen. Du siehst überall Krater und Trichter der Bomben. Wir marschieren eine Stunde bis an den Rand des Lagers, dann werden 2/3 von uns auf Traktoren verfrachtet. Wir müssen auf unseren noch warten und gehen bis zum nächsten Dorf. Dort besuchen wir - ich bin in einer Gruppe mit dem Kommandanten - eine Familie. Alles ist schlicht, einfach und sauber. Weil es draußen kalt ist, heizen wir volle Pulle. Wir fallen vor Müdigkeit fast um. Die Familie ist sehr nett und herzlich. Sie bringen uns zu essen. Natürlich bleibt die Frau im Hintergrund. Nur der alte Familienopa ißt mit uns. Sein Sohn bedient uns. Der Alte meint, Almanci sei ein kurdischer Dialekt und er kann sich nicht vorstellen, daß es die Sprache eines weit entfernten Landes ist. Unser Kommandant versteht es gut mit ihm zu diskutieren, auch in der Talabani-Barzani-Frage. Er ist in den Bergen groß geworden. Ich liebe diese Menschen in ihrer Einfachheit und Gewandtheit. Gegen ihn bin ich in den Bergen ein Elefant. Später erfahre ich, daß auch er an der Tasfiye-Praxis teilnahm, d.h., er hat als Kommandant auch unliebsame oder gegen die Regel verstoßende Leute verurteilt, bzw. vernichtet. Außerdem soll er eine Art "Piratenpraxis" gehabt haben: Wir machen jeden Tag eine Aktion, dafür können wir für den Rest des Tages die Sau rauslassen. Hier ist nichts widerspruchsfrei.

Nach unserem Dorfbesuch besteigen wir die Traktoren. Es ist eine abenteuerliche Fahrt. Manchmal durchqueren wir zwei Meter tiefe Pfützen, manchmal müssen wir aussteigen, der Allradantrieb versagt. Wir machen in einem Dorf Station, in dem wir in eine Schule gehen. Wir heizen ein, kochen Tee und schlafen auf den Schulbänken. Am nächsten Morgen geht's wieder früh los. Einen Kilometer weiter, im freien Feld, frühstücken wir. Die Freunde haben irgendwo Kekse aufgetrieben. Dann weiter, wieder marschieren. Zum Glück ist das Wetter trocken und nicht kalt. Wir hören immer wieder das Gerücht, daß uns Autos abholen. Als wir wieder einmal Halt, Feuer und Tee machen, tanzen wir sogar. Den uns begleitenden Journalisten fallen fast die Augen aus. Ja, hier geht ohne Tee gar nichts. Meine Zähne sind schon gelb, was noch geht, denn hier haben viele schwarze. Wir warten wieder. Die Sonne kommt. Ich bewundere die Leute, wie sie auf Schritt und Tritt einschlafen können. Schließlich waten wir oberschenkelhoch durch einen Fluß, auf der anderen Seite die versprochenen Autos. Doch nur die Hälfte von uns hat Platz. Wir warten wieder 2 bis 3 Stunden, machen Feuer und trocknen unsere Sachen. Als wir abgeholt werden, fängt es prompt zu regnen an, der auch bis wir ankommen, nicht mehr aufhört.

Jetzt bin ich also im PKK-Haupquartier. Es ist ein kilometerweites Schluchtengelände, du läufst Stunden darin herum. Um nicht weiter im Regen zu laufen, gehen wir in eine Höhle. Sie ist groß, 3 Mangas haben darin Platz. Es gibt auch Öfen und mit Plastikplanen abgetrennte Abteile. Ich esse heiße Suppe und schlafe so tief und fest wie schon lange nicht mehr. Am nächsten Morgen marschieren wir fünf Stunden bis zu einem anderen Ort, wo sich die Logistik befinden soll. Dort in einer Manga lassen wir uns nieder. Aber es gibt Luftalarm. Wir nehmen Stellung in einer anderen Höhle. Dort sind wir sicher. Am nächsten Morgen brechen wir zu unserem Militärtraining auf. Wieder marschieren wir fünf Stunden. Der Freund, der uns führt, kann hervorragend Deutsch, er kennt auch Pelda und Sîpan. Es ist für mich eine Wohltat mit ihm zu diskutieren. Ich merke gar nicht, wie die Zeit vergeht. Wir machen über Nacht halt bei einer anderen Gruppe. Wir kennen sie von der Schule her. Am nächsten Tag geht es weiter, auch die Männer aus der Schule sind dabei. Du merkst gleich den Unterschied, den sie als neugebackene Guerillas für wichtig erachten: wer kann besser gehen, besser schießen. Die Frauen drehen nicht so auf. Sie sind vorsichtiger, unsicherer, dafür lernen sie schneller. Wir machen in der YAJK-Zentrale Essenspause. Dann gehen wir weiter. Wieder nur marschieren. Am Abend sind meine Beine geschwollen. Meine Tasche ist auch nicht die leichteste. Und so weiter... Jedenfalls gab es dann noch einiges hin und her, weil der Vorsitzende nicht angeordnet hat, daß ich am Militärunterricht teilnehme. Es war dann aber kein Problem. Jetzt ist das schon wieder vorbei und der Krieg steht an. Krieg, d.h. daß auch von Seiten der türkischen Regierung Kräfte im Anmarsch sind. Im BBC wurde gesagt, das Ziel sei unser Hauptquartier. Mir ist unwohl, aber ich baue auf die Erfahrung der Freundinnen. Meine Waffe - ich will den deutschen Kalaschnikow-Nachbau, der ist leicht und angenehm zu tragen, oder die ungarische Version - ist noch nicht gekommen. Wir tragen auch zwei Halterungen für Handgranaten, aber das habe ich noch nicht gelernt.


29.4.1997
Mein Leben in der YAJK-Zentrale beginnt. Es ist natürlich kein Büro, sondern einfach einige Takims, versteckt im Dickicht. Die Leitung kommuniziert über Funk und Kuriere mit dem Hauptquartier. Der Platz war noch nicht dechiffriert, trotzdem sind wir wegen der Operation der Türkei auf einen Gipfel umgezogen. Das Leben sieht so aus, daß wir uns nur morgens und abends normal bewegen, sonst verstecken wir uns vor den Flugzeugangriffen. Das heißt, abends natürlich auch kein Licht und Feuer. Wenn die anderen ausschwärmen um Aufklärung zu betreiben, bleibe ich zurück. Das ist Talimat/Befehl. Ich komme mir zeitweise etwas überflüssig vor.

30.4.1997
Immer wieder kommst du, (...) mir in den Sinn. Ich weiß nicht warum. Eigentlich möchte ich die Erfahrungen mit Männern für mich abschließen. Von hier aus gesehen, vom gemeinschaftlichen Leben mit den Frauen sind sie nur überflüssig, verletzend und mich ausnutzend. Nein, keine Angst, ich sehe mich nicht nur als Opfer. Ich weiß, daß ich diese Angewiesenheit auf die Bestätigung durch einen Mann, seine Liebe und Anerkennung produziert habe, mich ihnen ausgeliefert habe. Ich weiß nicht, warum diese Erinnerungen jetzt kommen. Ist es, weil das Leben hier im Krieg mich anstrengt, ein Fluchtpunkt quasi, aber es war für mich auch eines der wenigen Verhältnisse in dem sich die typische Erfahrung mit Männern NICHT wiederholten.

Ja, heute sind wir von Hubschraubern geweckt worden. Die Situation ist angespannt, einerseits, andererseits kannst du gleichzeitig nicht viel machen. Sicher, die Gruppen, die zu Aktionen gehen, das ist etwas anderes.


1. Mai 1997 - Tag der ArbeiterInnen
Ich höre im Deutschlandfunk, daß es bei den 1. Mai-Kundgebungen zu Krawallen mit Rechtsradikalen kam. Hier geht die Operation weiter. Israelische Flieger kommen mit wahnsinniger Präzision angeschossen. Uns haben sie noch nicht dechiffriert. Das heißt, die Bomben gehen woanders nieder. Trotzdem gehen wir in Deckung, suchen einen Ort zwischen den Felsen hoch oben, an dem wir vor den fliegenden Felsbrocken geschützt sind. Aber es passiert nichts. Für mich sind das immer Momente, wo ich meinen Gedanken nachhängen kann. Das mag komisch klingen, aber wenn die anderen schlafen oder auf Aufklärung gehen, setze ich mir den Walkman auf.

Gestern hat mich eine tiefe Traurigkeit erwischt, als ich so zurück blickte. Weniger wegen dem verlassenen Leben, als dem, was ich hinter mir lasse, als mehr wegen den Verletzungen von (...). Es ist gut, wenn das rauskommt. Es macht Platz für Neues.
Jetzt ist keine mehr an meiner Seite, die Deutsch kann. Ich bin also gezwungen, türkisch zu sprechen und zu lernen. In der Enge, in der du hier zusammen bist, verstehe ich viel von dem, was in der Akademie diskutiert wurde, noch mal vor einem anderen Hintergrund. Die Strukturen der einzelnen die aufeinanderprallen, obwohl alle sehr kontrolliert leben. Wir kennen das ja aus der Diskussion, Kleingruppenisolation. In manchen Konstellationen kannst du wirklich verzweifeln.
Momentan bin ich in keiner Manga. Ich schlafe und esse mit Frauen aus der Leitung. Das gibt mir einerseits einen gewissen Freiraum, aber es macht auch einen Sonderstatus für mich aus, den ich nicht will.

Ja, meine Freundinnen und Freunde, wenn ich so schreibe, frage ich mich, ob das für euch überhaupt verständlich und vorstellbar ist? Einen Monat Berge. Jetzt steht die große türkische Mobilmachung bevor. Ich würde mir wünschen, daß es in den Metropolen Bewegungen gäbe, die diesen Krieg angreifen, unmöglich machen würden. Einfach den Nachschub kappen. Ich weiß, es ist angesichts des Zustands in den Metropolen utopisch, angesichts der Widersprüche zur PKK und der vorhandenen Solidaritätsbewegung. Auch auf längere Zeit wird es so bleiben. Schade, das wäre was. Eine militante Bewegung, die die Kriegsmaschine lahmlegt.
Aber zurück. Vielleicht muß ich konkreter den Tagesablauf schildern, wie wir schlafen, essen, usw. Heute kam meine Kalaschnikow. Das ist schon ein gutes Gefühl. Es macht dich wirklich stark.

Heute habe ich in den Nachrichten gehört, daß die Bullen in Berlin 220 Leute festgenommen haben. Die gewohnte Szenerie also. Das Leben dort ist mir zwar vertraut, aber schon weit weg. Das Leben hier ist mir noch ungewohnt, aber schon wie normal. Die Frauen haben mich gefragt, wo ich vorher war. Also wo innerhalb der Guerilla. Wenn ich sage, daß ich neu bin, staunen sie. Mich freut das. Nicht aus Leistung, sondern weil es auch eine Akzeptanz zeigt. Trotzdem bin ich natürlich fremd.

6.5.1997
Gestern habe ich 200 Brote gebacken. Den Tag zuvor bin ich zur Aufklärung gegangen und klitschnaß vom Regen und Hagel zurückgekommen. Die Gipfel sind hoch, kalt und noch schneebedeckt. Aber auf unserer Höhe ist es sommerlich, geradezu idyllisch. Vor drei Tagen kam der Kommandant. Der wird das Bundesland, in dem wir sind, im Kriegsfall befehligen. Es ist der gleiche, der auch unsere Manga geleitet hat und ich habe sehr großes Vertrauen zu ihm. Er hält auch eine Versammlung mit den Frauen ab, in der er die neuesten Nachrichten auswertet. Er sagt auch, daß die imperialistische Mobilmachung die größte seither ist und wirklich zum Ziel hat, die PKK als lebendigen Widerspruch zu vernichten. Das heißt, wir müssen auch mit diesem Bewußtsein die Situation begreifen. Er fragt auch nach Stimmung und Gedanken, Strategien. Alles auf Kurdisch, so daß ich nicht viel verstand. Mich fragte er am Abend vorher auch viel. Wenn ich auch viel verstehe, sprechen fällt mir noch sehr schwer. ...
Gestern abend gab es einen Fehlalarm. Ich dachte wirklich, jetzt geht's los. Aber es waren nur Frauen aus unserem Takim, die sich verirrt hatten. Wir, d.h. unsere Manga, hatte schon zu den Waffen gegriffen. ...


7.5.1997
Riesen Chaos - eine Einheit auf Durchmarsch scheucht uns auf - sie schießen in die Luft um uns zu signalisieren das sie den Weg nicht wissen. Wir schießen auch, aber dann ist nicht klar, ob wir nicht angegriffen werden. Ich finde es zeitweise absurd. Die eigenen Leute angreifen. Das erinnert mich an Situationen bei uns. Beinahe so.
Der Kommandant sagte, es gehe darum bereit zu sein. Davon sind wir Welten entfernt. Ja, Freundinnen und Freunde, manchmal frage ich mich, wie ich wohl sein werde, wenn ich zurückkomme. Ob ich mich in diesem Wust wieder zurecht finden werde? Sicher - irade var (Der Wille ist da) - und Anstrengungen werde ich aufbringen.
Der Vorsitzende sagte mir auch, mein Charakter wird sich ziemlich verändern, und ich werde auch einsam sein. Aber er glaubt daran, daß ich erfolgreich bin. Auch wenn wir verschiedene Sprachen sprechen, kämpfen wir für das gleiche Ziel.
Er ist eine unglaubliche Person, wirklich. Er sagte mir am ersten Abend, ich sei stark wie ein Wolf. Sicher ist er geprägt von der kurdischen Realität aus der er kommt. Aber es ist enorm wie weit er sich gelöst und entwickelt hat. Ich kenne KEINEN Mann auf dieser Welt der ein ernsthafteres Interesse daran hätte, daß Frauen stark werden. Nur ihn. ...
Die Freundinnen erzählen mir auch, daß eine Gruppe aus Pakistan da ist/war. Das ist für sie wichtig - internationales Interesse. Diese Gruppe kam, um Erfahrungen zu sammeln, um dann ihren Kampf zu Hause aufzunehmen.


9.5. 1997
Heute vor einem Monat sind wir von der Schule weg. Wahnsinn, wie schnell die Zeit vergeht. Ich schreibe euch ein bißchen vom alltäglichen Leben. Wir essen dreimal am Tag warm. Es ist für mich noch schwierig, die richtige Hitzestärke am offenen Feuer zu finden, aber ich koche nicht oft. Es gibt eine gemeinsame Küchenstelle. Jeden Tag hat eine andere Manga Küchendienst. Meistens gibt es Grünzeug das hier wächst, in Fett gegart und selbstgemachtes Brot dazu. Danach der obligatorische Tee. Wenn die Logistik gut ist, gibt es aber auch Reis, Tomatenkonserven, Bulgur, morgens Suppe, Bohnen- Linsensuppe, Gerste. Gegessen wird mangaweise. Alle essen aus einem Teller, setzen sich am Boden im Kreis drumherum. Das ist nicht nur hier so, auch die zwei Tage als wir bei Familien untergebracht waren, war das so. In der Schule wurde ursprünglich auch so gegessen, dann aber wegen Zeitgründen im Stehen. Schlafen tun wir auf einer Plastikplane und eine Wolldecke zum zudecken. Das heißt, wir liegen zu sechst wie die Ölsardinen. Wenn sich eine umdreht, müssen sich alle drehen. Über uns noch eine Plane, provisorisch. Sie muß morgens schnell weggeräumt werden, damit die Aufklärungsflugzeuge uns nicht sehen. Wir haben eine große Feuerstelle an der wir bis zum Abend Glut fabrizieren und mit Steinen abdecken. Das heizt wahnsinnig. Ich habe mir schon oft die Füße angekokelt.

Naja, der Tag vergeht schnell. Momentan wechseln wir den Platz, gehen auf den Gipfel und warten auf die KDP. Und sonst? Baden tun wir nahe einer Wasserstelle, schnell schnell, weil der Feind das auch weiß. Wir machen in einem Eimer Wasser heiß und legen eine Nylonfolie auf den Boden als Becken über die Steine. Die Klamotten im Schnelldurchlauf waschen, in der Sonne trocknen und in der Zwischenzeit mit einer kleinen Dose duschen. Später mehr vom Leben und Schaffen in den Bergen.
Zur Zeit denke ich gern zurück. Die ganze Zeit die ich von zu Hause weg bin schaue ich mir gern an. Sie war wichtig für mich und ich habe viel gelernt. (...) Ich hoffe ich kann daran anknüpfen, wenn ich zurückkomme.

10.5.1997
Ich habe lange nicht geschrieben. Wir gingen zu einer anderen Frauenbölük, viele Eindrücke zu verarbeiten. Dreieinhalb Stunden Fußmarsch in der prallen Hitze. Ich schreibe die Tage mal mehr. (...) Ich habe einen Freund getroffen, der mit Pelda und Sîpan zusammen war. Und ich habe viel diskutiert. Also, alles zu Papier bringen liegt noch vor mir.

Zu diesen Träumen aus meinem vergangenen Leben - es ist, wie wenn ich das jetzt hier erst richtig verarbeite. Ich verändere mich, auch äußerlich. Ohne Training, Gymnastik, viel fettiges, nährwertarmes Essen, werde ich rund und weich. Es ist für mich persönlich eine große Erweiterung hier sein zu können. Ob ich es auch politisch transportieren werde können, weiß ich nicht. Dafür wäre es wichtig gewesen, als Gruppe zu kommen. Die Einladung an euch alle steht nach wie vor. Es muß auch für alle nicht die gleiche Form - Guerilla - sein. Sie haben hier schon ein Gespür dafür, wer was wie machen kann. Es gibt auch beim Vorsitzenden und bei der politischen Arbeit im Volk viel zu lernen. Auch die zeitlichen Rahmen lassen sich flexibel stecken. Aber es muß mit ihnen diskutiert werden, und man/frau muß wissen, was sie will. ... Ich kann mir gar nicht vorstellen was ihr macht. Die Zeit vergeht so schnell, es kommt mir viel länger vor.

Ich höre gerade Marla Glenn, meine Erinnerungen an die WG. Liebe Freundin, ich denke gern an unsere gemeinsame Zeit zurück. Manchmal versuche ich auch mir vorzustellen, wie du das hier bewerten würdest, wenn du es erleben, sehen würdest. Du sagtest ja mal, klar geht es nicht um einen Trödelverein bei unseren Diskussionen (...) Hier wird viel auf Anstrengung, Arbeit, immer wieder anstrengen, Disziplin (also auch "deutsche" Charakteristika) gesetzt. Wer glaubt, die PKK sei ein fundamentalistisch - fanatisches Naturereignis, weiß wirklich nicht, wieviel Arbeit und Energie hier drin liegen. Sie ist entstanden aus dem Aufbruch 1968, als es auch in der Türkei große Bewegungen gab. Sie ist entstanden, weil offensichtlich war, daß es ohne kurdische, keine türkische Revolution geben kann. Ihr Ziel ist sozialistisch - kommunistisch. Ihr Weg ist die nationale Befreiung und internationale Offensive. Aber sie arbeitet flexibel, mit vielen Taktiken. Ihr Entstehen hat vielen Genossen das Leben gekostet, so wie die jetzige größte Mobilmachung der Imperialisten gegen sie. Wir, d.h., die Guerilla in den Bergen und die Partei sind der einzige relevante lebende Widerspruch zu ihrer Todesmaschinerie. Sie sagen, wir sind 11.000 in den Bergen. Ich kämpfe hier mit diesem Bewußtsein und ich bin froh, hier zu sein. Auch wenn mir die alltäglichen Bedingungen manchmal schwer erscheinen.

Ihr seht, ich habe mein Herz an die PKK verloren. Mir ist etwas Bange geworden, als der Freund von Pelda und Sîpan sagte, sie wollen gar nicht mehr zurück. Vielleicht geht es mir nach einem Jahr auch so? Aber der Vorsitzende wird das nicht zulassen. Er weiß, wie wichtig die Arbeit in den Zentren ist. Ich weiß auch, daß ich mich dafür von meinen Gefühlsduseleien befreien muß, sowohl was die Verletztheithaltung anbelangt, als auch die Liebes - Sehnsucht - Frage. (...) Ich freue mich auf die Rückkunft. Ein bißchen hat es schon den Charakter von Durchhalten hier. Das ist auch das Sprachproblem. Aber es ist auch, weil mein Zuhause und mein Platz auch Platz des Kampfes hier nicht so ist wie da. Ich muß mir selbst auch mehr Zeit geben. Jetzt bin ich gerade dreieinhalb Monate hier. Vor sechs Monaten kann man das gar nicht beurteilen. Es ist normal also, daß die Szenen von davor mich beschäftigen. (...)


13.5.1997
Die Luftangriffe nehmen zu. Gestern verbrachten wir den ganzen Tag damit, in Schützengräben, also ausgesuchten, geeigneten Felsspalten, und zum Teil ausgehobener Erde, die nahe niedergehenden Bomben zu beobachten. Es ist ein brutales Gefühl, wenn so ein Bomber über dir fliegt. Du bist dem dann ganz ausgeliefert. Wenn sie niedergehen, steigt eine Staubwolke auf, so sieht das aus der Ferne aus. Ich kriege einen wahnsinnigen Haß und ich schwöre, in Europa, diese Kriegsmaschi-nerie zu sabotieren. Abends dann, als wir uns gerade hinlegen wollen, kommt wieder ein Bomber. Ich bin gerade auf dem Weg zur Stellung, als neben uns die Rakete runtergeht. Es ist noch weit entfernt, trotzdem kommt es mir unsagbar nah vor. Die Rakete ist eine kleine Bombe, aber sehr hell und die Luft zittert. Dorfbewohner im Tal haben ein Feuer gemacht. Sie können zwei und zwei nicht zusammenzählen, denn eigentlich wissen sie ja, daß Krieg ist. Genau auf die Feuerstelle haben sie gezielt. Aber unser Platz ist noch nicht dechiffriert. Also wissen sie nicht, daß wir hier sind. Wenn sie es wüßten, würden wahrscheinlich hundert Bomben runtergehen. Gerade gegen die YAJK haben sie absoluten Vernichtungswillen. Wir sind noch fünf Mangas, 6-8 Frauen je Manga, im Hauptquartier. Die anderen Kräfte sind verteilt in den verschiedenen Bundesgebieten und den umliegenden Gipfeln. Hier verläuft nicht nur die Grenze zur türkischen Republik, die KDP von der anderen Seite macht mit der Unterstützung der Türkei auch mobil. Wir haben Dotschkas. Sie schießen Hubschrauber und Flugzeuge ab. Es ist aber eine heikle Frage, wann man sie einsetzt. Es heißt, das manche Flieger nur kommen um herauszufinden, ob und wo die Dotschkas sind, um dann dort geballt zu bomben. Also zu früh darf man sie nicht einsetzen. Früher waren sie absolute Männerdomänen, aber jetzt gibt es viele in "unserer" Hand. Aber auch insgesamt ist die eigenständige Frauenorganisierung-/armee etc. immer noch ein Kampf, eigentlich ähnlich wie bei uns. Die Frauen trauen ihrer eigenen Stärke nicht und ringen um männliche Anerkennung. Die Männer, um zu zeigen wer sie sind, sind immer "besser" als die Frauen. Ich kenne nur einen Menschen, der als Mann wirkliches Interesse an unserer Befreiung hat: Abdullah Öcalan. Er redet nicht nur darüber, sondern es hat einen konkreten Ausdruck in seinen Handlungen, Befehlen. Er sagt, daß der Mann der Kapitalismus, die Frau der Sozialismus ist. Über die Jahrtausende Benutzung der Frauen. Vielleicht schaffe ich es wirklich mal, meine Verletzungen politisch zu begreifen und rauszukommen. Das Leben mit den Frauen tut mir gut. Sicher gibt es auch das Kleingruppensyndrom und welche, die ich nicht leiden kann. Umgekehrt wahrscheinlich ebenso. Aber durch die gemeinsame Arbeit, die Partei und die Prinzipien, spielt das keine so große Rolle, kein großes Gewicht. Natürlich gibt es auch Freundschaften, aber insgesamt sind die Befindlichkeiten der Einzelnen nicht wichtig, bzw. gibt es Mechanismen, wo sie aufgehoben sind. Z.B. das tägliche Tekmil. Der einzelne Mensch spielt an der Frage wie und ob er/sie kämpft und welche Probleme er/sie dafür überwinden muß, eine wirkliche Rolle. Dafür gibt es die Kritik/Selbstkritik und auch Hilfe. Hier wird niemand einfach fallen gelassen. (Dafür fallen viele, könnte ich an dieser Stelle sagen).

Ich werde immer wieder gefragt, warum nicht mehr Deutsche/EuropäerInnen hier sind. Der Erfahrungsreichtum ist groß. Es ist schwer zu erklären: Vorurteile, Sichtweise auf die eigene Rolle in Deutschland, Eurochauvinis-mus, Männerchauvinismus. Hier müssen sie auf ihre Privilegien, Frauen zu benutzen, verzichten. Die Angst vor dem eigenen Ich, weil sie sonst nichts sind. Aber dieses Nichts als Ausgangsbedingung zu begreifen um eine neue Identität aufzubauen, lieber flüchten sie - alter Hut, das weiß ich auch.


14.5.1997
Klassik im Deutschlandfunk. GenossInnen machten gestern eine große Aktion, ganz nah. Der Boden vibrierte. Genaues weiß ich auch nicht.


19.5.1997
Nur wenige Tage sind vergangen. Aber es ist viel passiert. Die Operation ist in vollem Gange. Wo es nur geht bombardiert die Türkei, kommen Hubschrauber, Soldaten. Von der anderen Seite KDP. Und sie schießen Havan/Bodenraketen. Von uns sind schon einige GenossInnen gefallen. Von uns heißt, nicht von unserer Einheit, sondern insgesamt. Der Umgang damit ist eine kurze betroffene Kenntnisnahme, aber eigentlich ist es wie normal. Nur einmal kam wirkliche Bestürzung auf, als Genossen eine Genossin verletzt liegen gelassen haben. Sie starb dann in den Händen des Feindes, nach Stunden. Vielleicht wäre sie noch zu retten gewesen. Der Krieg härtet die Leute ab. Es gibt sowieso viele Arten des Seins in den Bergen. Manche verdrecken und versumpfen völlig. Es ist eine große Anstrengung, daß merke ich selbst. Wenigstens einmal am Tag Zähne zu putzen, Gesicht und Hände richtig zu waschen, zumindest jetzt, wo wir unterwegs sind. Manche kriegen eine richtige Bandenmentalität. Dann wiederum gibt es Leute aus den Unis z.B., die einen sehr hohen politischen Begriff haben, aber meistens in der Praxis sehr schwach sind. Nur sehr wenige schaffen das, es miteinander zu verbinden. Aber es ist schon so, wenn du die Politik nicht verstehst, kein eigenes Ziel entwickelst, bleiben nur Mühsal und die Qual, den Alltag zu meistern. Manche GenossInnen laufen rum, als wären sie Gefangene. Aber gleichzeitig, verlassen wollen sie die Guerilla auch nicht, weil sie keine Alternative haben. Einer ist "geflüchtet". Er ist mit unserer Gruppe gekommen, ging zur Wache und kam nicht mehr. Es wird gesagt, er sei weggelaufen, weil er Angst vor dem Krieg hätte und das nicht offen sagen wollte. Hätte er es, wäre eine Lösung gefunden worden.

Aber zurück zu uns. Seit die Operation begonnen hat, ca. sechs Tage, ist unsere Situation um einiges schlechter geworden. (Früher dachte ich, Operation sei eine Aktion von unserer Seite, heute weiß ich das besser.) Zuerst waren an einem Platz ohne Wasser, nur zwei Stunden entfernt Schnee. Wir sind auf den Gipfel eines Berges um diesen a) zu besetzen und b) selbst vor Flugzeugangriffen geschützt zu sein. Wenn du im Tal bleibst, bietest du große Angriffsflächen. Am zweiten Tag war das Bombardement so groß, daß wir den ganzen Tag in einer Felsspalte verbringen mußten. Falls eine Bombe fällt, bist du dort vor den Splitterbrocken einigermaßen sicher. Es folgten Gefechte der nächstgelegenen Kräfte. Wir selbst sind aber nicht aktiv geworden. Wir sind dann von diesem Gipfel herunter. Eine Manga ist geblieben und eine Manga Männer gekommen. Ich wäre auch gern geblieben. Aber ich kenne das alltägliche Leben noch zu wenig, geschweige denn den Krieg. Es war hart für mich zu gehen. Ich habe die Todesmaschinen der Imperialisten gesehen und solche Wut bekommen, wieso die Türkei den Machtangriff auf Kurdistan nicht aufgibt. Natürlich weiß ich wieso, aber es hat mich trotzdem noch mal berührt. Ich sehe es jetzt so, daß es für mich keinen Unterschied macht, wo ich kämpfe. Auch fallen kann. Aber ich weiß, daß es fürs ganze wichtig ist, daß ich zurückgehe.

Wir sind dann eine Nacht marschiert. Langsam wird das Geschwadergeräusch weniger. Wir haben an einem Stützpunkt halt gemacht, wo ebenso viele Frauen waren wie wir. Sie haben vom Gefecht erzählt, von der gefallenen Genossin und ihrer Flucht. Sie waren noch näher dran als wir. Ab abend dann wieder eine Nacht marschieren. Hungrig, ein schnelles Guerillaessen, Fett, Mehl und Zucker, gebraten. Das ist Minimalversorgung. Meine Knie tun unsagbar weh. Nie kann ich sie mal strecken. Wenn wir schlafen ohne Decken, liegen wir eng beieinander mit angezogenen Knien, um uns gegenseitig zu wärmen. Für mich ist das alles ein bißchen viel, ich bin sozusagen wie aus dem Nest in den Krieg gefallen, eine so große Mobilmachung war seit '93 nicht mehr. Aber ich gewöhne mich langsam.

Meine Batterien sind leer. Ich höre keine deutschen Nachrichten mehr.
Wir haben drei Kobras abgeschossen. Eine große Meldung - juchhu! Ob ihr das alles mitkriegt? Wie ihr auf den Krieg reagiert, ob überhaupt? Die Amerikaner stellen es so dar: Bandenkrieg zwischen Barzani und PKK, wenn das zunimmt, mischen sie sich ein, was natürlich totaler Quatsch ist. 1. Ist es gegen die KDP kein Bandenkrieg, sondern sie werden von der Türkei benutzt. 2. Unterstützen die USA die Türkei sowieso. Aber es entstehen Reibungen, z.B. mit Irak. Viele arabische Völker begreifen es auch als Krieg des Westens gegen den Osten.


22.5.1997
Es regnet, wir sitzen unter einer Plane. Ich bin krank, Magen-Darmgrippe. Wir haben ein neues Gebiet betreten, Zagros, das bekannt ist für seine harten Bedingungen, unter anderem Wetter und Feindpräsenz. Da sich die Türkei aber auf den Zap konzentriert, ist es hier nur kalt und relativ ruhig. Trotzdem verteilen wir uns tagsüber, damit falls doch eine Bombe fällt, nicht alle auf einem Haufen hocken. Die türkischen Medien sagen, es wären 1400 PKKler umgekommen. Das ist natürlich ihre Propaganda. Bei einem Gefecht haben sich sechs Frauen in die Luft gesprengt. Sie haben zuvor 12 Stunden das Gefecht gegen den Feind aufrecht erhalten. Als ihnen die Munition ausging, haben sie es vorgezogen zu sterben, als den türkischen Soldaten in die Hände zu fallen. Gequält, gefoltert und vergewaltigt und wahrscheinlich umgebracht zu werden. Das ist für mich nachvollziehbar. Ich würde auch so handeln. Vor kurzem kam „meine” Granate. Wir ziehen uns den Patronengurt nie aus, auch beim Schlafen nicht.
Ich fühle mich gerade sehr dazwischen, obwohl alle sehr nett sind, entwickle ich keine richtigen Beziehungen. Neben dem Kulturunterschied ist es auch das Sprachproblem. Machen tun wir z.Zt. auch nichts, warten, wechseln ab und zu den Platz. Manchmal backe ich Brot, gehe zur Aufklärung. Aber eigentlich sind wir gerade nur auf Durchgangsstation, was wohl auch so bleiben wird, bis die Operation abgeschlossen ist. Die Tage, an denen wir nicht marschieren, mag ich gar nicht. Manchmal wünsche ich mir ein Dach über dem Kopf und ein Bett. Das sind die kleinen Bequemlichkeiten, die mir fehlen. Im Verhältnis zu den meisten Frauen hier bin ich schon ziemlich alt. Also auf Jahre wäre dieses Guerillaleben nichts für mich.


29.5.1997
(...) Ich weiß nicht, ob und wie ich nach der Zeit hier bin. Sicher denken wir hier auch viel über die Frauen- Männerfrage nach. Aber es verläuft doch vor einem anderen kulturellen Hintergrund und seit der Operation ist eh Ausnahmezustand. Dauernd beweglich, nur das Nötigste zu essen, wenig Wasser. Dafür Bombenangriffe mittels Hubschraubern, Flugzeugen und Bodenraketen. Bisher bin ich noch in keiner aktiven Einheit. Aber nach eineinhalb Monaten wäre das auch etwas früh.

Und ihr? Zu gerne würde ich wissen, was ihr macht, wie's Euch geht. Wißt ihr von der Operation? Was bedeutet es jetzt für Euch, das zu hören? Wie sehr wünschte ich mir jetzt eine Bewegung in der Metropole, die diesen Krieg angreift und aufhält. Ich werde immer wieder gefragt, warum nicht mehr Deutsche/Europäerinnen kommen. Hier gibt es so viel zu sehen und zu lernen. Sie haben 25 Jahre Kampferfahrung und vor dem Hintergrund, wie kolonialisiert, zurückgeblieben, und zerstückelt das kurdische Volk ist, assimiliert und benutzt, hat es die Anstrengung und das Leben vieler Genossinnen gebraucht, die Partei so weit zu bringen, wie sie heute ist. Das ist kein charismatischer Verdienst Abdullah Öcalans allein, obwohl er eine wichtige Rolle spielt. Zum Teil sind Leute 18 Jahre in den Bergen, sie waren mit allem konfrontiert, Agenten, psychologische Kriegführung, militärischer Kahlschlag.
Wenn sie das geschafft haben, können wir das auch. Manchmal muß ich in mich hinein schmunzeln, angesichts des regiden Bildes, das über die PKK existiert und unserer Wirklichkeit. (...)

Jetzt bin ich schon zwei Monate in den Bergen. Es ist extrem, wie schnell die Zeit vergeht. Heute habe ich das erste mal Sport gemacht. Mein Körper ist, abgesehen von den Beinen, schon sehr schwach. Ich will Euch noch mal zu den zentralen Fragen, (Führung, Frau/Mann, Verhandlungen mit den europäischen Regierungen) schreiben. Ich fange mit dem letzten an.

Abdullah Öcalan sagte mir beim Abschiedsgespräch, daß, auch wenn wir andere Sprachen sprechen, wir doch die gleichen Ziele haben. Als ich ihm sagte, die deutsche Linke wertet das als “Verrat”, winkte er nur ab. Dies sei seiner Ansicht nach kindisch. Aber er sagte mir auch, er gibt mir alles, was er mir geben kann, damit ich erfolgreich bin im Aufbau einer revolutionären Bewegung. Als ich ihn fragte, warum der VS zu Besuch war, übersetzte die Dolmetscherin falsch und sagte “Chef der Republik”. Er wurde etwas säuerlich. Es ist klar und das ist auch Programm: Flexibilität. Das heißt nicht Ideologielosig-keit, im Gegenteil. Die steht hier auf sehr festen Beinen. Aber es heißt auch, die aktuelle Situation zu erkennen und sich darin richtig bewegen zu können. Eigentlich ist die Feindschaft zu den Deutschen ja klar. Kinkel muß wohl mal gesagt haben, Kurdistan o.k., PKK, Öcalan, Sozialismus NIE. Es sind also beide Momente, die Unversöhnlichkeit, die sie aber nicht so schnell umschmeißen, die Lücken und Widersprüche bei den Imperialisten, diese nutzen. Zum Beispiel haben Amerika, Israel und England eine andere Haltung zum Krieg, als Deutschland und Frankreich. Von dieser Seite her Druck auf die Türkei und Israel hätte für die Guerilla und also auch für die Partei ganz materielle Folgen. Ich kann das schon so sagen, aus der Unumstöß-lichkeit des Kampfes um ein sozialistisches und unabhängiges Kurdistan haben sie auch keine Berührungsängste. Selbst wenn die Imperialisten Purzelbäume schlagen würden, nichts kann die Bewegung aufhalten. Dafür ist sie in ihrer Anzahl und Überzeugung viel zu stark und zu lange gewachsen. Deswegen hassen sie die PKK ja auch so sehr. Das kann man mal ganz objektiv feststellen.

Morgen ist der 2. Juni, Benno Ohnesorg, Bewegung, 2. Juni. Hier ist es auch so, daß es einige Feiertage gibt. Der 15. August, Beginn des bewaffneten Kampfes, 21.3.82 Mazlum Dogan hat sich im Gefängnis verbrannt, 28.4., Agît, Mahsum Korkmaz ist gefallen. Bei uns 18.10. Stammheim, 30.4. Walpurgisnacht, 9.11. Holger Meins fiel im Hungerstreik.
Sie legen sowieso viel Wert auf die Wirkung nach innen, so gibt es viele verschiedene Zeremonien für Begrüßung und Abschied usw. Das zeigt auch eine gewisse Unabhängigkeit, aber es ist auch die Erfahrung von 20 Jahren Kampf. Zum Beispiel die Form wie Versammlungen abgehalten werden, kurz und effektiv.

Break: ich spreche mit einer Freundin, die in London gearbeitet hat. Sie erzählt von Kanî Yilmaz und seiner Festnahme. Kurze Zeit später stellte Deutschland einen Auslieferungsantrag, weil sie behaupteten, alle Aktionen in Deutschland hätte er angeordnet. Nur aus Konkurrenzgründen haben sie ihn nicht ausgeliefert.
Weißt du, hier ärgere ich mich über unseren Eurozentrismus, also daß so wenig Bereitschaft besteht, mal über den Tellerrand hinauszusehen. Natürlich kannst du die PKK genau sowenig wie die FMLN oder irgendeine andere Bewegung mit deutschen Maßstäben messen. Das heißt, dort sind immer Elemente enthalten, die für deutsche Verhältnisse vielleicht unbrauchbar oder kontraproduktiv sein mögen, die aber aus den Tatsachen des Volkes, der Realität resultieren. Umgekehrt würde eine autonome Bewegung hier keine Chance haben. Das heißt noch lange nicht, daß sie, die PKK, unkritisierbar wäre.


Mai 1997
Wenn Mann sagt, wieso denn noch keine Frau anstelle des Vorsitzenden ist, zeigt das nur, daß er in dem "Rückschritt von der Männlichkeit", so nannte Abdullah Öcalan es, und ich behaupte, ihm ist es auch gelungen, (er sagt von sich selbst er ist kein Mann, sondern ein Mensch) - für die Männer keine Möglichkeit sieht. Es geht ja aber nicht darum, an jede Stelle anstatt eines Mannes eine Frau zu setzen, das ist wie eine Quotenregelung der Grünen. Zudem haben wir mit unserer Sozialisation genug zu tun, um das zu verändern, sondern es geht um die Veränderung, auch als Mann. Mir kommt das alles hoch, daß Mann, obwohl er sich nicht von der Stelle bewegen will, die Frauen, also auch mich, benutzt, die sich an ihm, seiner alten Struktur abarbeiten. Und dann ärgere ich mich über mich selbst, wieso ich mich darauf überhaupt eingelassen habe - diesen Job übernommen habe? Mich nicht abgrenzen konnte? Ich denke es hat mit meinem Selbstbild zu tun. Mich besser als alle anderen Frauen zu sehen, die ihm das beibringen können. Also nicht nur die Reproduktion der alten Konkurrenz (noch dazu im Verhältnis zu einem Typen) unter Frauen, sondern auch die Entpolitisierung. Als könnte ich, jetzt mal egal wie gut oder schlecht, als einzelne Frau in diesem Widerspruch eine Lösung erzielen, als wäre das kein insgesamtes Problem, und das am schwersten lösbare überhaupt. Politisch gesehen geht es also um die Frage, wie weit ich unserer eigenen Kraft als Frau vertraue, denn die Männer werden von sich aus ihre Privilegien nicht aufgeben. Das ist auch meine Erfahrung und es ist wirklich so, daß ich außer Abdullah Öcalan keinen kenne, der ein ernstes Interesse daran hätte, daß wir als Frauen aufstehen und stark werden. Nur diese Privilegien anzugreifen wird sich nicht innerhalb einer Beziehung lösen, zumal nicht, wenn es außerdem keinen Ort gibt, wo dieser Widerspruch angegangen wird. Ich sehe natürlich einen Unterschied, z.B. wie die Frauen hier überhaupt gefühlsmäßig reagieren. Das ist auch ein Relikt aus der Kultur, wo es den Rationalismus wie bei uns nicht gibt. Die Gesellschaftsstruktur ist feudal, da bedeutet ein Verlieben die Aufgabe von allen anderen Zielen. Ich sehe das für uns nicht so, denn wir können das anders kontrollieren. Trotzdem ist bei uns die Beziehungsfrage nicht ausreichend behandelt, begriffen und beantwortet. Ich kann dazu gerade auch nicht viel sagen, ich sehe z.B. auch da einen Unterschied, wo die KurdInnen für sich formulieren, daß ein Vorsitzender notwendig ist, allein um die Konkurrenz um den Vorsitz auszuschalten. Für uns, das find ich klar, kann und muß Führung ein Kollektiv sein. Nicht nur zur Reduzierung der Fehler, sondern auch zur Umsetzung dieses Zieles, als Lebensform.

Ich habe meine Krankheit einigermaßen überwunden, ein neuer Abschnitt beginnt. Die türkische Armee hat das Hauptquartier geknackt und sich dort niedergelassen. Syrien, Iran und Irak schalten sich ein, und langsam werden auch Stimmen aus Europa laut. Ich bin gespannt, wie lange das noch dauern wird. Unsere Taktik ist Guerilla: angreifen, zurückziehen, hinauszögern. Die türkische Armee kann das nicht ewig aufrechterhalten. Das höchste sind sechs Monate, sechs Monate beweglich bleiben, hieße das für uns. Dann kommt eh der Winter. Aber so lange werden sie das nicht durchhalten. Ich persönlich war noch in keiner aktiven Kriegshandlung.

Zwei Punkte beschäftigen mich zur Zeit. Das eine ist die Leitungsfrage, das andere ist die Sexualität. Leitung meint Verantwortung und Entscheidungen zu treffen, aber das hat auch etwas Korruptes, was dann deine Privilegien sind. Ich versteh auch die anderen nicht, daß sie das so tragen, also von selbst die Unterwürfigkeit. Naja, sicher ist es gut, den KommandantInnen, die z.T. schon 20 Jahre in den Bergen sind, Respekt zu zollen. Aber die Leute kriegen dann fast den Mund nicht mehr auf. Ein Autoritätsproblem? Zur Sexualität, ich kann beschreiben, wie sehr mir das fehlt. Es ist nicht nur mit jemanden, auch für mich selbst. Da bleibt hier kein Raum. Ich habe auch das Gefühl, durch die Tabuisierung wird es noch stärker. Ich denke nicht viel daran, es sind eher so Momente, wo ich ein bißchen “trauere", wo das ganze Verlangen und tiefe Empfinden zu einem stillen Bedauern wird.
Es war meine Entscheidung, und sie war auch gut, trotzdem ist sie streckenweise schwer zu tragen. Es ist dann in diese Trauer meine ganze Gefühlslage reingepackt, also sehr intensiver Verzicht anstelle von Verlangen.


26.5.1997
Ich fühle mich auf dem Weg der Heilung, verliere Mißtrauen und Kontrollbedürfnis. Gemeinsam mit den Freundinnen mache ich die Erfahrung, daß es auch anders geht. Überhaupt wirst du, trotz aller Anstrengung und Anspannung, sehr ruhig. Eine Ahnung von dem, was Leben wirklich sein kann - auch verbunden mit der Natur - tut sich auf. Vor dem Hintergrund wird das Leben in Europa so deutlich fremd, wie es auch wirklich entfremdet ist. Wir sagen ja, du kannst die Zügel, die dich halten in Europa, deine Konditionierung erst dann umfassend verstehen, wenn du außerhalb Europas eine andere Realität kennenlernst und von dieser aus zurückschaust. Sicher, es gibt hier auch viele Sachen, die nicht gut sind, aber die sind für mich kein Problem, sie sind nicht meine "Herkunft". Der Feudalismus z.B. Auch die Langsamkeit und Unvernetztheit. Ich merke auch daran, daß ich müde werde zu vermitteln, was ich hier alles sehe. Ich werde so oder so als ein Produkt davon zurückkommen, ich verlasse Schritt für Schritt meine Beobachterinnenstellung. Muß nur aufpassen, daß ich nicht so gefühlsbeladen reagiere, "gegen die Imperialisten, angreifen", das wäre viel zu gefährlich, dafür hab ich noch zu wenig Erfahrung, auch wie man sich schützt. Ganz abgesehen davon, daß die Leitung mich gar nicht lassen würde.
Ich werde also in nächster Zeit wenig schreiben. Auch weiß ich nicht, was es für Euch für eine Bedeutung hat. Immer noch kein einziges Wort von Euch. Wenn ich jetzt wüßte, es hat große Wichtigkeit, würde ich natürlich schreiben. Ich glaube, ich muß auch einzeln schreiben, die Konturen sind schon zu sehr verschwommen, und gemeinsam wird es zu einem einzigen Brei. "PKK'li olmak: hergün, heran yeni baslangiclar yapabilmek-tir" - PKK'Ierin zu sein, heißt an jedem Ort einen neuen Anfang machen zu können. Ich habe schon zwei mal Genossinnen kritisiert. Sie mich auch, ich würde mich technisch annähern, und würde individuell leben - manchmal.


3.6.1997
Gestern hörte ich einen Bericht über den 2.Juni. Sie sagen, 30 Jahre hat dieses Ereignis die Republik erschüttert, jetzt ist Frieden. Und ein Interview mit Horst Mahler. Es ist schon verrückt - er und der Reporter können die Wirklichkeit sehr genau sehen und voraussehen, aber nur eines, Konsequenzen ziehen sie nicht, bzw. im Falle Mahlers die falschen.


5.6.1997
- gerade hören wir, daß der Feind sich aus dem Hauptquartier, das er eingenommen hatte, zurückzieht. Gestern haben "wir" den 4. Hubschrauber abgeschossen. Er fiel auf 11 Soldaten - fast alle hohe Offiziere. Ob es deswegen ist, oder ein Trick?


7.6.1997
Die KDP will Frieden, die TC (Türkei) gibt Erklärungen ab, daß sie die PKK schon längst besiegt hätten, wäre da nicht die Unterstützung der Russen und Libyens. Es klingt so, als würde die Operation bald abgebrochen werden. Uns steht dann ein ruhiges Leben bevor. D.h., die Luftangriffe gehen natürlich weiter, aber nicht in dieser Dichte, und Bodenoperationen machen sie erst mal nicht mehr. Es sind viele gefallen, zwei, die ich kannte. Du nimmst die Nachricht dann natürlich ganz anders auf. Zwei Männer, die ich kannte, sind abgehauen. Heute hab ich das erste mal Wache gehalten, bei einer "Festgenommenen". Es ist eine Frau einer anderen Takim, gegen die es einen Agentenverdacht gibt, d.h. eigentlich Fragen zu ihrem subjektiven Verhalten. Sie setzen das hier so zusammen, daß es oft Festgenommene gibt. Fragen zur Praxis, ein selbstkritisches Nachdenken, eine Zeit der Konzentration auf sich selbst. Wenn ein Agentenmoment dazu kommt, wird der auch bearbeitet, aber meistens sagen die Leute das dann von selbst. Festgenommen heißt, ausgeschlossen zu sein, um auch vor Ablenkung geschützt sein. Die jetzige ist so ca. 20 m von uns weg zwischen Steinen - sie geht natürlich mit uns an alle Plätze mit. Tagsüber eine Wache, die alle Stunde wechselt, nachts zwei. Dann gibt es eine Kommission, die täglich mit ihr diskutiert. Für mich war es sehr merkwürdig. Einerseits habe ich mich an meinen Knast erinnert - andererseits habe ich gedacht, was wohl gewesen wäre, wenn wir das mit Steinmetz damals auch gemacht hätten. Ich bin gespannt, wie das hier weitergeht. Ansonsten ist es mittlerweile sehr heiß, richtiger Sommer. Unzählige Stechmücken machen uns das Leben zur Hölle. Wir bewegen uns eigentlich noch im gleichen "Bundesland" - auf großer Höhe, da sind wir vor Luftangriffen sicher. Ich staune immer wieder über die Schönheit dieses Landes. Nur die Kriegsspuren haben stark zugesetzt, z.B. schöne wiesige Flächen - wutsch mitten drin ein Bombenkrater oder Hunderte verkohlter Bäume, wo die Bomben und Raketen getroffen haben. Ich beginne dieses Land sehr zu lieben. Manchmal stockt mir der Atem, so schön ist es.


10.6.1997
Es ist viertel nach sieben, wir essen gleich. Die Entwicklung der Gespräche mit der Festgenommenen zeigen, daß sie eigentlich ohne richtige Entscheidung hierher gekommen ist. Du kannst nicht mit einer Haltung gewinnen, jetzt ist alles egal, jetzt kämpfe ich, vielleicht sterbe ich. Das ist ein weitverbreitetes Problem, bei ihr wurde es nur besonders deutlich. So eine Hoffnungslosigkeit schlägt sich natürlich auch im Alltag nieder. Das oberste Prinzip der PKK ist es, das alles zu zerstören und ein neues Leben zu schaffen. Wenn die Leute aber nur dem alten nachtrauern/hängen, wird der Widerspruch sehr schnell sichtbar. Ich bewerte diese Form der "Gefangenschaft" mittlerweile als einen sehr wichtigen Schritt im Kampf um die Menschen. Es wird nicht einfach nur gesagt: "Du bist ein Schwein oder was auch immer - hau ab", sondern es wird der Hauptwert auf die Veränderung gelegt. So sagt die Leitung z.B. auch, daß die Agentenfrage nicht das Ausschlaggebende ist. Selbst wenn sie z.B. zugeben würde, eine zu sein, geht es darum, ob sie eine tiefgreifende Veränderung will oder nicht, also ernsthaft eine Umkehr will. Die früheren Agenten haben z.T. für die Partei die größte und meiste Arbeit geleistet, während die eigenen Leute später oft Agenten wurden bzw. eine Politik und Praktik machten, die zumindest einer Agententätigkeit sehr nahe war. Ich hoffe, daß bald die Gerichtsverhandlung ist. Ich schreib Euch dann darüber.


14.6.1997
Ich habe lange nicht geschrieben. Sehr heiß, sehr müde. Zur Zeit sind die Frauen-Kräfte des Bundeslandes, wo wir sind, alle hier im Hauptquartier. Es wird jetzt eine Neuordnung geben, also alle in neue Einheiten verteilt, mit verschiedenen Einsatzgebieten und Aufgaben. Ca. 15.000 Leute sind in der Guerilla, bei einem kurdischen Volk von ca. 35 Millionen sind das ca. 0.04 Prozent. Die türkische Armee hat sich zurückgezogen, die KDP hält noch die Zufahrtswege, die sie kontrolliert, geschlossen, es kann also einen Versorgungsengpaß geben. Sowieso essen wir fast nur noch Mehl, Fett, Salz bzw. Zucker und Tee natürlich. Ich habe trotzdem viel zugenommen und Wasser in den Beinen. Das kommt von dem ständigen Wechsel. Mal gehst du 10 Stunden und mehr, dann wieder sitzt du den ganzen Tag herum.


16.6.1997
Die Zeit vergeht wie im Flug, wir werden ins Hauptquartier zurückgehen, von wo sich die türkische Armee zurückgezogen hat. Insgesamt waren 50.000 Soldaten bei dieser Operation eingesetzt, im Hautquartier ist jetzt bestimmt alles vermint. Laufend gibt es Aktionen, so wurde zum Beispiel ein Zug überfallen, in dem Özelteams/Kontergueril-la saßen. Mich würde ja sehr interessieren, wie das in den Medien rüber kommt. Wir sind eigentlich in der Offensive.
Ich habe für mich die erste Phase des Ankommens jetzt abgeschlossen. Werde überlegen, wie und was ich machen kann. Will mit der Leitung diskutieren. Wir hören regelmäßig BBC. Gestern wurde Apo dazu befragt, welches Verhältnis er zum Iran hat. Erst vor kurzem wurde da ein Freund, der noch mit uns in der Akademie war, verhaftet. Jetzt wird er wahrscheinlich an die Türkei ausgeliefert.


19.6.1997
Eine gute Freundin ist bei der Neuordnung gegangen. Bei mir hat das gleich Verlassen-heitsgefühle ausgelöst. Es war für mich interessant zu beobachten, wie ich reagierte, ignorierend, schmollend. Ich weiß, es kam aus der Erziehung, zeig deine Gefühle, Verletzungen nicht. Ich weiß, daß ich diese Gefühlslage in den Griff kriegen muß für die Aufgabe, die vor uns liegt. Ich weiß außerdem, daß meine Gefühle, Verletzungen aus meiner europäischen Konditionierung kommen: Wenige sehr enge Verhältnisse, in die alles gepackt wird. Ich habe hier die Erfahrung gemacht, daß es auch anders sein kann. Trotzdem ist die alte Weise natürlich nicht mit einem Mal weg. Es ist schon komisch, was ich als schwach-sein gelernt habe. Das andere ist, daß für mich, wenn wir jetzt ins Hauptquartier zurückgehen, ein neuer Abschnitt beginnt. Ich will mich jetzt richtig darauf vorbereiten, was ich hier machen, lernen, anschauen kann, was für zu Hause nützlich ist. Dementsprechend werde ich mir dann ein Programm machen. Ich merke schon: Ihnen gleich zu sein, also mich anzupassen, reicht nicht. Teilweise will ich es auch nicht. In diesem Zusammenhang frage ich mich, wie die beiden, Pelda und Sîpan, eigentlich hier sind.

Die FreundInnen sagen ja z.B., daß Pelda Kurtleschmisch, d.h. zu einer Kurdin geworden sei. Ich führe manche Diskussionen mit "frustrierten" Deutschen über die Lage in Deutschland. Sie sehen dort zwar Möglichkeiten, aber keine Kräfte, die diese zu nutzen wüßten. Ich will in diesen Momenten nur zurück. Anfangen, arbeiten, ideologisch sich gemeinsam eine Grundlage schaffen, die bestehenden Beziehungen auf - und ausbauen. Die Erfahrungen auswerten. Ich weiß aber auch, daß ich geduldig sein muß, Schritt für Schritt. Jetzt sind meine Schritte erst mal, die PKK zu verstehen. Warum machen sie was wie? Wie ist sie entstanden usw. Sicher habe ich nach viereinhalb Monaten schon einen Einblick bekommen, aber noch nicht tief genug. Als ich versuchte, eine Genossin zu kritisieren, bin ich auch auf Reaktionen gestoßen. Der Kern der Kritik wird nicht gesehen, dafür die Kritikerin unter die Lupe genommen. Dann kamen sie zu dem Schluß, daß ich es nicht richtig verstanden hätte, weil ich Deutsche sei. Auch vieles also, was ich nicht richtig finde, aber ich bin mir bewußt, daß ich meine Maßstäbe nicht einfach anlegen kann. Fürs Aussortieren, was jetzt wirklich wichtig ist, wäre, wenn wir als Gruppe hier wären, alles einfacher. Sowieso, ich wurschtel mich so alleine durch. Ich kann mir Euer Leben zum Teil gar nicht mehr vorstellen. Denke oft, was es von hier alles zu nehmen gäbe, aber auch, wie wenig bekannt z.B. ihre Geschichte ist.

22.6.1997
Der Begriff Verstehen hat hier eine große Bedeutung, auch wenn das für mich anders ist, meint er doch ein tiefes Verstehen, aus welcher Wirklichkeit welcher Schritt kommt und schließlich ein tiefes Verständnis der Prinzipien, die ich bewerten und auf unsere Lage übertragen kann. Hier hat das Verstehen deshalb eine so große Bedeutung, weil die Kurdlnnen keine einheitliche Realität haben. Sie sind assimiliert, wachsen in Europa auf, im nördlichen Irak, können nicht lesen, schreiben, aber arabisch, kommen aus den türkischen Metropolen, wo sie mit Computern aufwachsen, oder südanatolischen Bergen, aus Dörfern ohne Strom und Wasser. Nur um ein bißchen, die Bandbreite zu zeigen. In der Partei treffen alle aufeinander. Deshalb ist es wichtig zu verstehen, wo jemand herkommt, auch um ein gemeinsames Leben bewerkstelligen zu können und um einen Streit um den Besitz der richtigen Linie zu verhindern. Zwar entwirft die Partei die Politik, aber in der Praxis, den Bergen z.B., sieht es oft so aus, daß verschiedene Vertreterinnen um die Richtigkeit ihrer Linie fighten - Machtkampf, wir kennen das auch. Grob skizziert ist z.B. die bäuerliche Linie mit militaristischer bei uns, "hau drauf und Schluß" zu vergleichen und die kleinbürgerliche mit den praxislosen PolitikerInnen, die andere wahnsinnig gut kritisieren können, aber selbst nichts machen.

Als ein paar Beispiele. In diesem Punkt bedeutet Partei, Organisation und Führung z.B. ZK eine relative Ausschaltung dieser kräftezehrenden Grabenkämpfe. Hier ist es auch nicht so, daß Abdullah Öcalan alles festlegt. Es gibt ein breites Zentral Komitee (ZK), daß dafür verantwortlich ist. Er ist nur einfach einer, der seit Jahren einen absolut geschärften und geschulten Blick für die eigene Lage hat. Oft kommen wichtige Impulse von ihm, und natürlich ist er nach außen auch Repräsentant. Ich werde im Verlauf des nächsten Monats einen Bericht für ihn schreiben, denn es ist sicher interessant, wie ich als Deutsche das hier bewerte. Ich werde versuchen, jetzt, wo die Operation zu Ende ist, Pelda und Sîpan zu treffen. Wenn es eine Verständigungsmöglichkeit gibt zwischen uns, fände ich es gut, die weiteren Schritte hier mit ihnen gemeinsam zu bestimmen. Ob es schnell gehen kann, steht im Moment noch nicht fest. Ich bin im Karagah, im Hauptquartier, wo eine Kaderausbildung anfangen soll. Ob ich daran und wenn ja, wie teilnehme, steht noch nicht fest.

So, Ihr lieben, bis bald. ich hoffe immer noch auf Post von Euch.
Warum muß eine Kultur die andere ablösen und begraben? Warum muß der Kampf zwischen der mütterlichen (weiblichen) und der väterlichen (männlichen) Linie in einseitiger Niederlage enden und nicht in einer Bindung? Warum muß der patriarchalische Mann die Mutter, die Frau stürzen, vernichten, um sie abzulösen. Wenn der Kampf zwischen mütterlicher und väterlicher Macht mit dem Sieg des Vaters endet, dann widerlegt der Ausgang des Kampfes jedenfalls die Behauptung des Siegers, daß die unterlegene, die Frau - zu gefährlich und zu mächtig sei, um mit ihr zu koexistieren.
Die Beschwörung der weiblichen Bedrohung ist ein uralter Mythos, der die Unterordnung der Frau legitimieren soll. Die Frau entwickelt in persönlichen Beziehungen Initiative und Kompetenz, auch wenn damit eine Neigung zur Aufopferung verbunden sein kann. Sie definiert sich mehr durch Anteilnahme an anderen Menschen und weniger durch Abgrenzung.
Warum erscheint sie nur als eine archaische Figur? Ein Resultat der Abwehr, Angst und Furcht werden von der wirklich gefährlichen Vaterfigur abgespalten und mit der mütterlichen Macht verschmolzen.


26.6.1997
Einen Monat werde ich im Karagah/Hauptquartier als Sportverantwortliche sein und dann nach Haftanin zu Pelda gehen. Ich will das als ersten Schritt bestimmen für unsere neue Etappe. Entsprechend freue ich mich darauf, bzw. fürchte ein Scheitern. Falls sie z.B. mit Deutschland abgeschlossen haben sollte, wird das ein harter Schlag für mich sein. Aber wichtig, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Gefühle kontrollieren, der Weg, die konditionierte Persönlichkeit zu verändern. Ich stelle in der Rückschau fest, daß meine, unsere Politik sehr stark von den persönlichen Gefühlen geprägt war. Die jeweiligen Wunden, Verletzungen und Überlebensstrategien vor sich her getragen und daraus gehandelt. Vor allem im Verhältnis zu Männern habe ich wider meiner politischen Gewißheit gehandelt. Wenn ich schon weiß, daß daraus nur Verletzungen für mich kommen und mich in alte Rollen drängen, frage ich mich, warum ich immer wieder darin meine Rettung gesucht habe. Ich bin mir sicher, für eine erfolgreiche politische Arbeit kann die jeweilige Gefühlslage keine Orientierung sein. Und ich hoffe, wir finden da neue Kriterien. Es ist nicht nur wichtig, um nicht immer wieder von vorn anzufangen, wenn mal wieder alles zusammengebrochen ist, sondern es ist auch als Signal wichtig: Veränderung ist möglich, wir können unsere Erziehung abschütteln.


25.6.1997
Eine Takimkommandantin war Agentin und hat den ganzen Takim in die Vernichtung geführt (ca. 15 Leute). Sie ist dann mit den türkischen Soldaten mit. Ich beobachte auch hier, daß die Agenten oft sehr "fleißig" bemüht, sich anstrengend sind. Die Frau, die festgenommen wurde, ist immer noch bei uns. Wie sie mit der Agentenfrage umgehen, ist sehr interessant. Wenn man z.B. schaut, daß die Anfangsgruppe von Agenten unterwandert war und sie dies aber wußte und so handelte, daß der türkische Staat dachte, er hätte die Gruppe in der Hand, und sie als ungefährlich eingestuft hatte. Heute ist die türkische Verzweiflung groß, daß der Geheimdienst damals so versagt hat, denn jetzt haben sie die "Plage" PKK am Hals und können sie beim besten Willen nicht vernichten. Das zeigt ja auch diese Operation, die so groß angelegt war. Es hat auf unserer Seite sicher einige Gefallene gegeben, aber diese vermeintliche Übermacht, trotz Hochtechnologie, gibt es nicht. Das war auch bei den ersten Luftangriffen meine Angst: Jetzt machen sie uns dem Erdboden gleich. Ich hatte diese Vorstellung der Imperialisten schon verinnerlicht: Wir kriegen euch alle! Sicher, im Laufe der Zeit gewöhnst du dich daran, lernst einzuschätzen, wann eine Bombe in die Nähe fallen könnte etc und am Anfang waren nur das Erschrecken und die Wut. Aber abgesehen von diesem Gewöhnungseffekt ist es eine Wirklichkeit, daß 10 bis 20.000 Guerillas in Teilen des Landes schon eine Art befreite Gebiete erkämpft haben. Das vor allem an den Grenzen zu Syrien, Irak, Iran. Die Zivilbevölkerung hat zu großen Teilen das Feld geräumt, ist vor den Bombenangriffen geflüchtet. Es ist wie ein Niemandsland, daß als ein Kurdistan neu geschaffen und aufgebaut werden kann. Einen anderen Weg gibt es nicht. Sie haben nicht die Macht, die Möglichkeiten, die PKK zu vertreiben.

Mal soweit für heute. Ich will euch morgen noch mehr über die kurdische "Mentalität" schreiben, wie ich sie sehe, erlebe. Dembasch - ich beginne Kurdisch zu lernen. Noch ein PS: Vier ihrer Superhelikopter haben wir abgeschossen, einer davon fiel dem halben türkischem Armeebefehlsstab auf den Kopf!!

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machwerk, frankfurt (2000)